Wirbel um Abgang von Kevin Brühlmann

Tamedia - Drei Wochen nach der Veröffentlichung eines wegen antisemitischen Formulierungen heftig kritisierten Porträts wurde der Autor entlassen. «Es gab wiederholt unterschiedliche Auffassungen über Qualität im Journalismus», heisst es bei Tamedia. Die Redaktion protestiert.

von Michèle Widmer

Es war ausserordentlich: Mehrmals und auf mehreren Kanälen haben sich Arthur Rutishauser, Chefredaktor Redaktion Tamedia und SonntagsZeitung, und Priska Amstutz, Co-Chefredaktorin Tages-Anzeiger, entschuldigt. Grund dafür war ein Porträt vom Montag, 24. Januar, über Sonja Rueff-Frenkel, die für den Zürcher Stadtrat kandidierte. Der Titel des Porträts lautete «Die Frau mit dem Spinnennetz». Rueff-Frenkel twitterte danach: «Es ist bedauerlich, dass der Tagi aus einer Vielzahl möglicher Attribute zu mir, ‹weiblich› und ‹jüdisch› gewählt hat.»

«Im Artikel wurden ungewollt antisemitische Klischees bedient. In dem Porträt nehmen ausserdem die Rolle von Frau Rueff-Frenkels Religion und ihr Privatleben zu viel Raum ein, insbesondere im Vergleich zu Artikeln über andere Kandidatinnen und Kandidaten», liessen Rutishauser sowie Amstutz danach verlauten (persoenlich.com berichtete). Auch Kevin Brühlmann, Autor der Geschichte und Zürich-Redaktor beim Tages-Anzeiger, hatte sich auf Twitter für seinen Artikel entschuldigt.


Nun, drei Wochen später, hat Kevin Brühlmann die Kündigung bekommen. «Wir bestätigen, dass Kevin Brühlmann den Tages-Anzeiger verlassen hat», schreiben Arthur Rutishauser und Mario Stäuble, Co-Chefredaktor Tages-Anzeiger, auf Anfrage von persoenlich.com. «Es gab wiederholt unterschiedliche Auffassungen über Qualität im Journalismus. Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu Personalfragen nicht weiter äussern können.» Am Mittwoch hatte Inside Paradeplatz darüber berichtet und geschrieben, dass der Redaktor nicht mehr im Impressum des Tages-Anzeigers aufgeführt ist.

«Die Qualität unseres Journalismus ist für Tamedia von höchster Priorität», ergänzen Rutishauser und Stäuble gegenüber persoenlich.com. Die Grundlagen dazu seien im Handbuch «Qualität in den Medien» festgehalten und seien den Redaktionsmitgliedern über alle Stufen hinweg bestens bekannt. «Wir werden die jüngsten Ereignisse zum Anlass nehmen, unsere internen Kontrollmechanismen weiter zu verbessern und die Kultur des Gegenlesens zu stärken, insbesondere im Hinblick auf sensible Sachthemen», heisst es von der Zürcher Werdstrasse.

Wie die Republik schreibt, sei das umstrittene Porträt von insgesamt fünf Personen gelesen worden, bevor es publiziert worden sei – darunter auch von der Chefredaktion und der Ressortleitung. «Niemand intervenierte.» Der Text habe Verleger Pietro Supino schliesslich missfallen. Zuvor gab es von Brühlmann bereits eine Recherche über die Baugarten-Stiftung, die Supino ebenfalls nicht goutiert haben soll. Am Freitag sei Brühlmann entlassen worden. «Am Dienstag hat die Redaktion des Tages-Anzeigers mit einem Brief protestiert und fordert Brühlmanns Wiedereinstellung», so die Republik.

«Unangemessen und sogar kontraproduktiv»

Auch das jüdische Wochenmagazin «Tachles» schrieb über die Entlassung von Brühlmann. Demnach hatten sich mehrere namhafte jüdische Zürcher Persönlichkeiten in einem Brief an Verleger und Geschäftsleitung von Tamedia gewendet. Darin hätten sie sich dankbar für die klare Entschuldigung gezeigt, aber deutlich gemacht, dass sie eine Entlassung des Journalisten «unangemessen und sogar kontraproduktiv» finden würden.

Im Schreiben heisst es laut Tachles: «Dass vor der Veröffentlichung niemandem auf der Redaktion die Problematik des Artikels aufgefallen ist, beleuchtet, wie tief verwurzelt antisemitische Klischees in unserer Gesellschaft sind. Diese anzugehen, erfordert daher bessere Mechanismen und Sensibilisierung auf Stufe Redaktion.»

Vor seiner Zeit beim Tages-Anzeiger arbeitete Kevin Brühlmann bei der Wochenzeitung Schaffhauser AZ. 2019 erhielt der Journalist den Newcomerpreis des Zürcher Journalistenpreises. Im Jahr davor holte er den Schweizer Reporterpreis.