TV-Kritik

SRF bolzt Quoten mit Behinderten

Am Freitag war Nik Hartmann erneut mit sechs jungen Menschen mit Downsyndrom unterwegs. «Reise mitohne Hindernis» heisst das Format unter dem Label «SRF bi de Lüt». Die «Expedition» führte unter anderem nach Disentis in der Surselva. Grosser Spass beim der Goldwaschen am Rhein. So gut umgehen mit Gehandicapten kann von SRF nur ein Mann – der Hartmann. Den ersten Trip hatten 363'000 Zuschauer verfolgt (Marktanteil: über 30 Prozent). Nach früheren Quotenhits wie «Üsi Badi» oder «Üse Buurehof» bemerkten Redaktionen des Schweizer Fernsehens, dass mit Behinderten dicke Quoten geholt werden können – und kamen auf den Geschmack.

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In einer weiteren Folge der Reihe «Tabu» wurde am Sonntag gezeigt, wie der Comedian Renato Kaiser vier Tage mit zwei unheilbar kranken Frauen und einem Mann vier Tage in den Bergen verbrachte. Die Ausgabe vom 25. August hatten knapp 200'000 Leute gesehen (Marktanteil: 17,8 Prozent). Das ist (zu) wenig zur besten Sendezeit am Sonntagabend.

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Kaisers Sendung ist eine Mischung aus Gesellschaftsreportage und Comedy. Der Komödiant unterhielt sich mit den Schwerkranken in Einzelgesprächen über ihre schweren Schicksale und fragte, wie sie damit leben und umgehen. Er machte dies empathisch und sensibel.

Die Gespräche mit und Geschichten der Betroffenen verwendet der Ostschweizer Witz-Klempner für Stand-up-Auftritte auf der Bühne. Die von ihren Krankheiten gezeichneten Menschen, die immer wieder mit dem Tod konfrontiert werden, sitzen im Theater in der ersten Reihe.

Kaiser über seine 132 Zentimeter kleine Kandidatin, die sich künstlich ernähren muss und für die von Ärzten einst eine Lebenserwartung von nur zwei Jahren prophezeit worden war: «Der Letzte, von den man das in den 1990er-Jahren gesagt hat, ist DJ BoBo.» Oder: «Sie ist nur 132 Zentimeter gross. Das heisst, sie kann dich unter den Tisch trinken und dir gleichzeitig noch in die Augen schauen.»

Über seinen Gast mit MS machte sich Kaiser so lustig: «Was kommt nach dem Tod? Und ist es dort rollstuhlgängig?» Für eine unter anderem schwer krebskranke Frau fiel ihm dieser Joke ein: «Was sagt ein Krebskranker, wenn du ihm ankündigst, Witze über ihn zu machen? Er antwortet:  ‹Ich kann dir eh nicht lange böse sein›.» Alles Geschmackssache.

Ja, man darf auch über kranke und behinderte Menschen Witze machen. Ebenso, wie dies über Lehrer, Banker, Polizisten, oder Ärzte getan wird. Es kann für Minderheiten sogar diskriminierend sein, wenn sich niemand über sie lustig macht – und sie auch da ausgeschlossen werden. Ein beinamputierter Mann erklärte mir einst, dass Humor seine Behinderung annehmbarer mache. Ausserdem kann Lachen das Verständnis nähren. «Krank» oder «Behindert» dürfen keine Schmähwörter sein.

Allerdings: Sendungen wie «Tabu» sind ein Gruppentanz auf dem Minenfeld. Über Humor kann man schlecht streiten. Ich lasse in diesem Punkt die Zuschauer entscheiden. Randgruppen verdienen in den Programmen der öffentlich-rechtlichen Sender selbstverständlich genügend TV-Sendezeit. Doch SRF sollte der Übertreibung entgegenwirken und eines der ältesten Sprichwörter zur Kenntnis nehmen: Allzuviel ist ungesund. Obschon Übermass auch im Fernsehen oft durchaus erfolgreich sein kann.


René Hildbrand
René Hildbrand ist Journalist, langjähriger Fernsehkritiker und Buchautor. Während 27 Jahren war er für «Blick» tätig, danach Chefredaktor von «TV-Star».

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