31.10.2016

Migros

«Dieser Aufschrei war vorhersehbar»

Migros‘ Experiment mit personalisierten Rabatten löste einen heftigen Proteststurm aus. Was hat der Detailhändler falsch gemacht? Und wie gefährlich ist die Forderung vom Konsumentenschutz? IMD-Marketingprofessor Stefan Michel erklärt, welche fairen Methoden es gibt, die höchstmögliche Zahlungsbereitschaft der Kunden abzuschöpfen.
Migros: «Dieser Aufschrei war vorhersehbar»
Stefan Michel ist am IMD in Lausanne Professor für Marketing und Service Management.  (Bild: zVg.)
von Edith Hollenstein

Herr Michel, sammeln Sie Cumulus-Punkte?
Ich habe eine Cumulus-Karte und selbstverständlich auch eine Supercard. Aus beruflicher Neugierde will ich wissen, wie diese Kundenkarten funktionieren. Ich trage mich auch online in Listen ein – natürlich mit veränderten Namen – um zu überprüfen, wie mein Profil verfolgt wird.

Seit September experimentiert Migros bei Cumulus-Karten-Besitzern mit einem Pilotprojekt, das das persönliche Einkaufsverhalten mit Rabatten belohnt. Stört es Sie, wenn Ihnen in der App andere Rabatte angezeigt werden als der Kundin vor Ihnen an der Kasse?
Ja, das stört mich, denn ich habe dann das Gefühl, weniger profitieren zu können als andere. Das zeigen auch Untersuchungen: Die Leute empfinden es als unfair, wenn unterschiedliche Kunden unterschiedliche Rabatte erhalten, ohne dass sie selber etwas dafür tun können, um das günstigere Angebot zu bekommen.

Machen Sie ein Beispiel?
Fair ist, wenn alle Kunden denselben Coupon erhalten. Sie können dann aber selber entscheiden, ob sie den Aufwand betreiben wollen, ihn einzulösen. Wenn gewissen Kunden der Gruppe A aber andere Coupons angeboten werden als Kunden der Gruppe B und die einen sozusagen bestraft werden, weil sie immer das gleiche Produkt kaufen und dafür einen höheren Preis zahlen müssen, ist das nicht fair.

Individuelle Rabatte bedeuten eigentlich individuelle Preise. Ist es nicht ungeschickt von Migros-Chef Herbert Bolliger, wenn er abstreitet, personalisierte Preise eingeführt zu haben?
Herr Bolliger weisst zurecht darauf hin, dass nicht alle Coupons für alle Kunden gleich relevant sind. Seine Argumentation ist, dass die Absicht der Migros nicht in den personalisierten Preisen, sondern in personalisierter Werbung liegt.

«Reiche bezahlen am Schluss mehr», titelte die «NZZ am Sonntag»: Stimmt diese Befürchtung?
Der Titel ist etwas reisserisch, weil «Reichtum» nicht als Merkmal bei Cumulus gespeichert ist. Aber in der Tendenz stimmt die Aussage: Kunden mit höherer Zahlungsbereitschaft sollen mehr zahlen und sollen teurere Produkte kaufen.

Hätte Migros den Protest-Sturm verhindern können?
Wahrscheinlich haben sie das unterschätzt. Noch wahrscheinlicher ist, dass Migros genug realistisch ist und einfach mal testet, um zu schauen, wie die Konsumenten reagieren. Gibt es zu viel Widerstand, krebst man einfach wieder zurück. Mich überrascht das Vorgehen von Migros und Coop. Die beiden Unternehmen besitzen so grosse Menge an Daten und hätten es daher gar nicht nötig, die Leute zu verärgern mit personalisierten Rabatten.

Was wäre die Alternative?
Sie könnten ja einfach allen Kunden dieselben Rabatte geben, denn sie wissen ja genau, welcher Kunde an welchem Tag welchen Rabatt einlösen wird und welcher Kunde nicht. Wenn ein Rabatt an eine bestimmte Bedingung geknüpft wird, ist er fair. Wenn er an eine bestimme Person geknüpft wird, ist er unfair. Migros hätte die Rabatte nicht personalisieren sollen, besser wäre es, gezielt zu steuern, so dass bestimme Leute den Rabatt einlösen und andere nicht. Man könnte alle Coupons auf die App laden, und ich könnte dann die ersten dreissig Coupons wegklicken, wenn ich sie nicht nutzen will.

Migros hat ja versucht, die persönlichen Coupons als etwas positives, als Geschenk dazustellen. Aber auch das goutierten die Konsumenten nicht.
Diese Discountstruktur wird durchschaut. Die Medien haben das zu Recht aufgegriffen und transparent gemacht. Für mich war dieser Aufschrei vorhersehbar und wäre eigentlich vermeidbar gewesen. Die Detailhändler hätten wie gesagt die Daten anders nutzen können, und damit verhindert, dass sich die halbe Schweiz in Aufruhr versetzt.

Wie lukrativ ist denn Personal Pricing für den Detailhandel: Sind tatsächlich Margensteigerungen von zehn Prozent möglich?
Genaue Zahlen habe ich hierzu nicht. Aber es gibt eine vielversprechende Logik: Wenn Sie den Jahresbericht von Migros nehmen und dann die EBIT-Marge anschauen, beträgt diese etwa vier Prozent. Wenn Migros dann die Preise im Durchschnitt um ein Prozent erhöhen kann, wirkt das besonders stark. Denn ein Prozent von vier sind 25 Prozent. Über eine Preissteigerung erhält ein Unternehmen einen viel grösseren Hebeleffekt als über eine Mengensteigerung. In diesem Fall hat eine Preiserhöhung einen 25-fachen Hebeleffekt.

Gibt es andere Varianten, um die höchstmögliche Zahlungsbereitschaft abzuschöpfen?
Selbstverständlich. Nur alleine durch die Eliminierung durch «stupid discounts» kann die Marge in vielen Branchen um ein  Prozent gesteigert werden. Spezifische Zahlen für Schweizer Grossverteiler kenne ich nicht.

Was sind «stupid discounts»?
Es gibt gute und schlechte Rabatte. Bei den schlechten wird zum Beispiel ein guter Kunde diskrimiert, weil er nett ist, - also anders als andere Kunden nicht aufdringlich ist und reklamiert, sondern anständig ist. Wenn ich nun als Migros-Kunde mehr für Guetzli zahlen muss als andere Kunden, weil ich aufgrund meiner über Cumulus aufgezeichneten Daten als besonders kaufkräftig eingestuft werde, ist das unfair. Fair ist hingegen, wenn es beispielsweise Rabatte für Einkäufe am Donnerstag gibt. Diese Rabatte empfindet ein Kunde fair, denn er kann selber entscheiden, ob er die «Strafe» auf sich nehmen und profitieren will. Gute Kunden dürfen nicht dafür bestraft werden, dass sie gute Kunden sind.

Ist es richtig, wenn Migros diejenigen Kunden besonders viel zahlen lässt, die keine Cumuluskarte haben?
Ohne Cumuluskarte erhalten Sie gewisse Rabatte nicht. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es Kundengruppen gibt mit sehr tiefen Einkommen, die die Cumuluskarte nicht verstehen und nicht nutzen. Wenn diese Kunden bei der Migros M-Budget-Produkte einkaufen, bezahlen sie schliesslich weniger für den Warenkorb als Cumulus-Nutzer.

Wie gefährlich ist für die Migros die Forderung des Konsumentenschutz?
Die Forderung des Konsumentenschutz addressiert den Datenschutz, aber nicht die Preisunfairness. Nehmen wir an zwei Kunden kaufen Ananas, jemand zahlt aber zwei Franken weniger als der andere. Jetzt fordert der Konsumentenschutz beim tieferen Preis die Deklaration, warum der andere zwei Franken weniger zahlen muss. Das hilft doch nicht! Denn der mit dem Rabatt zahlt ja weniger, der ist nicht wütend. Wütend ist derjenige, der zwei Franken mehr bezahlt – bei ihm aber ist nichts deklariert.

 



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Kommentare

  • lmaxmai, 04.11.2016 12:48 Uhr
    Herr Michel, wenngleich Datenschutz und die damit gekoppelte Forderung der Stiftung für Konsumentenschutz wichtig ist, so stimme ich Ihnen insofern zu, dass es hier um mehr als um Datenschutz geht. Wie zum Beispiel bei der Vergabe von Bandbreiten im Internet, so müsste auch bei Rabatten eine gewisse Neutralität gewährleistet werden.
  • Anita Irniger, 03.11.2016 09:38 Uhr
    Als Kunde wird man ja völlig überfordert mit all den Coupons und Gutscheinen. Ich habe lieber nette Bedienung und eine gute Stimmung beim Einkaufen. Ich bin erst seit Kurzem Cumulus Teilnehmerin. So habe ich ein paar verschiedene Nüsse eingekauft und schon bekomm ich diesen komischen Coupon mit Gutscheinen. Jetzt kaufe ich sicher nicht gleich wieder jede Menge Nüsse ein. Es ist falsch, zu denken, dass man mit dem Sammeln all dieser Daten, die Kunden greifbarer werden. Zudem fühle ich mich betrogen, wenn ich einen grossen Einkauf mache und dann erst im Nachhinein, falls ich noch mehr einkaufe, eine Gutschrift bekomme. Da stimmt was nicht.
  • Stefan Michel, 02.11.2016 17:20 Uhr
    Ich habe natürlich keine Mühe damit, wenn Migros Kunden die personalisierten Preise schätzen (letzte drei Kommentare). Es ist aber sicher nicht so, dass die Migros Millionen in ein Cumulus Programm investiert und Ihnen dann die Produkte 25% billiger abgibt, die sie eh kaufen werden. Sonst könnte sie ja einfach den Barwert der Cumulus Punkten verdoppeln. Zweitens ist es mir auch klar, dass Kunde A absolut nicht mehr bezahlt, wenn er den Coupon nicht erhält, aber er bezahlt mehr als Kundin B, die den Coupon nutzt. Das verletzt das Fairnessgefühl vieler Kunden, was vorhersehbar war. Deshalb der Titel des Interviews: dieser Aufschrei wäre vermeidbar gewesen.
  • Carsten Jean Reiner, 02.11.2016 12:45 Uhr
    Leider schreiben wohl alle vom NZZ-Artikel ab, der schlicht und ergreifend falsch recherchiert hat: die Migros hat sich im fairsten Sinne dafür entschieden, mit dem System allen Kunden gleich viele 25% Rabatte auszudrucken. Und als die Frage aufkam, auf was die Kunden Rabatt bekommen sollen, hat man sich entschieden, auf die 20 am häufigsten gekauften Produktekategorien. Also genau das Gegenteil(!) von dem, was NZZ und Herr Michel da schreiben.
  • Michael Braune-Krickau, 02.11.2016 07:17 Uhr
    Verstehe die Diskussion nicht. Wird sie von Leuten geführt, die keine Erfahrung mit dem "neuen" Cumulus Rabattsystem gemacht haben? Kundenkarten gewähren in der Regel Aktionsvorteile, die nicht Kundenkarten-Besitzer nicht erhalten. Wer mehr (und hochwertigere Produkte kauft) erhält am Jahresende mehr Prozent Rabatt, Auch sonst ist es üblich, dass gute Kunden Rabatte erhalten. Ich bin regelmässiger Migroskunde und hatte durch das neue "personalisierte" System keinerlei Nachteile, im Gegenteil. Dass ich mehr zahlen muss, als am Regal angeschrieben, kam nie vor. Und für alle gibt es immer noch und künftig das sehr gute Preis-Leistungsverhältnis inkl. der beachtlichen Preisaktionen.
  • Peter Zugerotti, 01.11.2016 18:22 Uhr
    Herr Michel unterliegt leider einem Denkfehler. Er schreibt: "Wenn gewissen Kunden der Gruppe A aber andere Coupons angeboten werden als Kunden der Gruppe B und die einen sozusagen bestraft werden, weil sie immer das gleiche Produkt kaufen und dafür einen höheren Preis zahlen müssen, ist das nicht fair" Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich habe bisher 4 Coupons a 25% Rabatt erhalten, fuer Produkte die ich OFT kaufe. Ich werde also von der Migros belohnt und nicht bestraft.
  • Hugo Franz Schibig, 01.11.2016 14:42 Uhr
    Ich finde es eine sauerei die Datensammlung für was eigentlich? Schlussentlich schneiden sich die Migros & Coop inden eigenen Finger. Weil nämlich der Kunde dann zu Aldi oder Lidl einkaufen geht günstiger und Aualitativ hochstehend mit 3 Jahren Garantie!!
  • Clarisse Pifko, 01.11.2016 09:12 Uhr
    Lieber Stef. Danke für den interessanten Artikel. Als Migros-Kundin ärgere ich mich über die personalisierten Rabatte. Ichhoffe, dass dein Interview einen shitstorm auslöst!
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