Es ist immer das gleiche Ritual: Kaum ist ein Schweizer «Tatort» über den Bildschirm geflimmert, basht es aus allen Ecken. Das war bei Reto Flückiger (Stefan Gubser) oftmals ungerechterweise der Fall, jetzt sind auch die beiden Kommissarinnen Tessa Ott (Carol Schuler) und Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) mit der aktuellen Folge «Schoggiläbä» auf der «Shitlist». Und dies, obwohl sie gendergerecht in der grössten Schweizer Stadt ermitteln. Es ist noch nicht lange her, als die beiden Kommissarinnen mit Vorschusslorbeeren überhäuft wurden. Doch es zeigt sich auch hier: Geht es um den Schweizer «Tatort», haben selbst diese ein Verfallsdatum. Und dieses scheint nun erreicht.
Am brutalsten agiert dabei der Tages-Anzeiger. «Ein kompletter Reinfall», titelte die Zeitung am Montag unmittelbar nach der Ausstrahlung des Schweiz-«Tatorts». Am Mittwoch doppelte Kulturchef Guido Kalberer nach: «Dieser ‹Tatort› macht unser Image kaputt». Nun sind wir also nicht nur von einer Diktatur bedroht, sondern auch durch einheimisches TV-Schaffen. Was jedenfalls gilt: Schweizer «Tatort»-Kommissar oder noch besser -Kommissarin zu sein, ist wirklich kein «Schoggiläbä».
Kalberer bezieht sich dabei auf deutsche und österreichische Kritiken, die – abgesehen vom euphorischen «Spiegel» – zugegebenermassen meist durchzogen waren. Kalberers Fazit: «Wir Schweizer werden richtiggehend vorgeführt, wie Anfänger behandelt, denen man im fortgeschrittenen Alter noch einmal das Abc erklären muss. Das tut weh.» Man lerne: Wird in Deutschland mit der Käpslipistole geschossen, zündet der Tagi als publizistischer Resonanzboden sogleich die Atombombe.
Viele «Tatort»-Kritiken sind nach Meinung des Schreibenden falsch und auch ungerecht. Selbstverständlich war die Handlung nicht ganz einfach (aber dies ist beim «Tatort» fast schon Usus). Natürlich hagelte es Klischees (aber die Schweiz und vor allem der Zürichberg sind nun mal wohlhabend und wir sind ein Schoggiland). Wer jedenfalls den Fernseher am Sonntagabend um 20 Uhr eingeschaltet hatte, blieb dabei. Und dies ist der heutigen schnelllebigen Medienwelt ein Kompliment.
Filmtechnisch jedenfalls war die aktuelle Folge – um in der Schoggisprache zu bleiben – «Lindt exzellence» und zeigte Zürich den Zürcherinnen und Zürchern so, wie sie sie am liebsten sehen: als Weltstadt mit einem Mix aus verschiedensten Milieus. In einer Zeit, in der die wirklichen Weltstädte unendlich weit weg sind, war dies ein veritabler Realersatz. Selbst das Zusammenspiel der beiden Kommissarinnen entsprach keineswegs genderspezifischen Idealvorstellungen, sondern endete beinahe in einem tödlichen Showdown. Das Prinzip Frauensolidarität wurde auf einem Bürogebäude in Züri-West vielmehr auf den Kopf gestellt, als die welsche Polizistin beinahe von einem ungarischen Kleinkriminellen erschossen wurde, weil ihre Zürcher Kollegin den finalen Rettungsschuss nicht ausführte. Zugegebenermassen eine spezielle und auch subtile Interpretation des Röstigrabens.
Dass die gleiche Szenerie wenig später auf der benachbarten Duttweilerbrücke zu einem vollkommen anderen Ende führte, zeugt zumindest von der feinen Ironie des Drehbuchschreibers. Diesmal handelte Tessa Ott schneller und schoss. Was zumindest beweist, dass Zürcherinnen und auch Polizistinnen lernfähig sind. Ich jedenfalls bin gespannt auf die nächste Folge – und auch auf die Psychologie zwischen den beiden Hauptakteurinnen.
Vorbild für einen guten «Tatort» wäre für Guido Kalberer die Krimireihe «Wilder», die – selbstredend – auch im Schweizer Fernsehen zu sehen ist. Produziert wird die TV-Serie von C-Films, die auch für den nächsten Schweizer «Tatort» verantwortlich zeichnet. Bleibt zu hoffen, dass dies für den Tagi-Kritiker ein gutes Omen ist und er sich künftig nicht mehr im Ausland für unseren «Tatort» schämen muss. Dauert die Pandemie aber noch an, kann Guido Kalberer die Schweiz eh nicht verlassen.
Matthias Ackeret ist Verleger und Chefredaktor von persönlich und persoenlich.com.
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Ehrrettung für den Schweizer «Tatort»