09.01.2013

Candystorm

Digitale Zärtlichkeiten

Daniel Graf weiss, welche Voraussetzungen es braucht.

"Shitstorm" war 2012 in vieler Munde und wurde zum Schweizer Wort des Jahres 2012. In der hitzigen Diskussion über "Shitstorms" sei oft vergessen gegangen, dass die Netz-Community nicht nur streiten, sondern manchmal auch kuscheln wolle, sagt Daniel Graf von der Agentur Feinheit. In seinem Blog "Kuschelkurs für Social Media: 5 Tipps für einen Candystorm" hat er deshalb fünf Praxistipps zusammengetragen, welche die besten Bedingungen dafür schaffen sollen, auf Social Media viel Zuneigung zu erhalten:

1. Zuckerwatte verteilen

Seit Paul Watzlawick wissen wir, dass jede Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt hat. Wer Zuckerwatte verteilt, erhält im Gegenzug Candy. Statt nur dein eigenes Unternehmen oder deine Organisation zu feiern, solltest du denjenigen applaudieren, die Grossartiges leisten. Indem du der Konkurrenz gelegentlich ein Lob aussprichst, erhöhst du deine eigene Glaubwürdigkeit. Merke: Ständiges Eigenlob wird schnell zum Bumerang.

2. Liebe ist nicht käuflich

Mittels Facebook-Werbung lässt sich zwar über Nacht eine Community herbeizaubern, doch hinter den Erfolgszahlen stehen meist keine echten Fans. Deine künftigen Freunde suchen und finden dich auch ohne Marketing. Dafür braucht es allerdings etwas Zeit und Ausdauer. Die besten Magnete, um Fans anzulocken, bleiben weiterhin Inhalte mit Mehrwert und eine treue Community, die diese verbreitet.

3. Gefühlswelten aufbauen

Viele Unternehmen verwechseln Social Media mit einem Lautsprecher. Kein Wunder, dass der verwendete Jargon oft den Charme einer Blechdose versprüht. Statt purer Information solltest du bewusst Gefühlswelten schaffen und pflegen, die zu deinen Produkten und Dienstleistungen passen. Die simple Regel "Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es hinaus" gilt auch auf Facebook.

4. Niederlagen zelebrieren

Drama ist grosses Kino. Und Hollywood lehrt uns, dass aufrechte Verlierer beim Publikum oft mehr Sympathien geniessen als stolze Champions. Wer Social Media nur für Erfolgsmeldungen nutzt, ist deshalb auf dem Holzweg. Klar mag es die Community, wenn ihr Favorit siegt. Sie nimmt aber auch mitfühlend Anteil an Misserfolgen. Niederlagen schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das lange währt.

5. Crowdsourcing

Die Social-Media-Community unterstützt dich jederzeit bereitwillig. Wer wird schon nicht gerne gebraucht? Crowdsourcing liefert nicht nur frische Ideen, sondern fördert positive Interaktion auf allen Kanälen. Und Fans sind begeistert von Lösungen und Produkten, die in Zusammenarbeit mit den Usern entstanden sind.

Der Erfinder des Begriffs "Candystorm" heisst Volker Beck, Grünen-Politiker in Deutschland. Er beschrieb damit das Phänomen, das seiner Parteikollegin Claudia Roth nach ihrer Wahlniederlage im November 2012 begegnete: ein Schwall von digitalen Streicheleinheiten und Trostbekundungen via Facebook und Twitter. persoenlich.com hat sich mit Daniel Graf über den "Zuckersturm" unterhalten. Das Kurzinterview:

Herr Graf, wie kamen Sie darauf, diese Candystorm-Tipps zu verfassen?

2012 herrschte in Unternehmen und Organisationen vielerorts Katerstimmung. Für Kopfschmerzen sorgte ein neues Internetphänomen, das als "Shitstorm" (persoenlich.com berichtete) Schlagzeilen machte. Die Kritik-Tsunami, die durchs Netz rollten, hinterliessen ein negatives Bild. Social Media wurde nicht mehr als Chance, sondern als Bedrohung für Unternehmen wahrgenommen. Dem wollte ich etwas entgegen setzen.

Wo haben Sie diese Erkenntnisse gesammelt?

In der Praxis. Ich habe selbst verschiedene Online-Communities aufgebaut und aus eigenen Fehlern gelernt. Man erliegt etwa schnell den Verlockungen von Facebook-Ads, mit denen sich über Nacht eine Community herbei zaubern lässt. Doch hinter diesen Erfolgszahlen stehen in der Regel keine echten Fans. Im Gegenteil: Weil die Beziehung zum Unternehmen fehlt, wird eine solche Community schnell zum Risikofaktor, gerade wenn ein Shitstorm losbricht.

Kennen Sie - abgesehen vom Wirbel um Claudia Roth - noch weitere prominente Candystorms?

Prominente bekommen in der Regel mehr Zuckerwatte, weil sie eingefleischtere Fans als Unternehmen haben. Ein Klassiker ist Roger Feder, der seine Babyfotos nicht einem Boulevardmagazin verkaufte, sondern gratis auf Facebook veröffentlichte. Das brachte ihm über 11'000 Likes ein. Ein anderes Beispiel ist Lara Gut, die Social Media gekonnt nutzt und nicht nur Erfolge, sondern auch Niederlagen geschickt zelebriert.

Braucht es immer zuerst einen Rückschlag oder eine Heldentat, damit es einen Candystorm geben kann?

Der Dramafaktor mobilisiert die Fans. Trotzdem sind Streicheleinheiten kein Zufall, sondern das Resultat von Beziehungsarbeit. Social Media ist kein Lautsprecher, sondern ein Dialog-Medium. Die klassische PR zielt auf Medienschaffende und liefert nicht die authentischen Gefühlswelten, die einen Candystorm begünstigen.

Wurden Sie selbst auch schon von einem Candystorm überwältigt?

Meine eigenen Missgeschicke lösten auf Social Media die stärksten Reaktionen aus. Wenn ich etwa nach den Ferien eine Handy-Rechnung von über 700 Franken erhalte, weil ich ab und zu im Ausland den Tagesanzeiger gelesen habe. Oder wenn mir nach einer Shopping-Tour eine Tüte mit neu gekauften Kleidern aus dem Kinderanhänger fällt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Selbstironie und ein Augenzwinkern kommen immer gut an.

Ist der Candystorm ein jüngeres "Phänomen", als der Shitstorm?

Im Gegenteil: Candystorms sind im Grunde ein fester Teil der "Like"-Kultur auf Facebook. In der Regel sind es die guten Neuigkeiten, die Reaktionen auslösen, weiter geteilt werden und deshalb matchentscheidend für die Sichtbarkeit innerhalb der Communitiy sind. Im Gegensatz dazu sind Empörungswellen ein eher jüngeres Phänomen und auch eine Folge der gesellschaftlichen Verbreitung von Social Media.

Welches bekannte Schweizer Unternehmungen ist auf gutem Wege, 2013 von einem Candystorm zu profitieren?

Die besten Chancen haben Unternehmen, die mit ihren Produkten und Dienstleistungen stark im Alltag präsent sind und auf Social Media gelernt haben, authentisch und emotional zu kommunizieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Migros. Der orange Riese hat letztes Jahr - als ihm die Weihnachtsguezli um die Ohren flogen - gezeigt, wie selbst ein Shitstorm dafür genutzt werden kann, bei der Fan-Community mit einer überraschenden und sympathischen Reaktion zu punkten.

Text: Daniel Graf, Interview: Claudia Thöny


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