01.11.2017

E-Privacy

«Gratisinhalte könnten ganz verschwinden»

Dämpfer für Targeted Advertising: Ginge es nach dem EU-Parlament, sollen Cookies nur noch erlaubt sein, wenn der Nutzer explizit zustimmt. Dies würde die Werbewirtschaft gefährden – auch in der Schweiz, so Philipp Stamm, Chef der Rechtsabteilung von Goldbach Group.
E-Privacy: «Gratisinhalte könnten ganz verschwinden»
Das Europäische Parlament hat über den LIBE-Entwurf zur E-Privacy-Verordnung entschieden und diesen in die Verhandlungen mit den Vertretern der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission gegeben. Der Entwurf würde mehr Datenschutz und Sicherheit bringen. (Bild: Keystone/Nick Soland)
von Christian Beck

Mit 318 Ja-Stimmen gegen 280 Nein-Stimmen sowie 20 Enthaltungen hat das Europäische Parlament am 26. Oktober den Entwurf für eine E-Privacy-Verordnung verabschiedet. Die abschliessenden Verhandlungen zwischen Parlament und den EU-Mitgliedsstaaten stehen noch aus. Der verabschiedete Verordnungsentwurf führt nicht nur für Kommunikations- und Internetdienste, sondern für alle elektronischen Dienste neue Datenschutzkonzepte ein.

Herr Stamm, wie viele schlaflose Nächte hatten Sie?
Keine, ich schlafe grundsätzlich gut und lasse mir durch Revisionsvorhaben nicht den Schlaf rauben (lacht). Dies auch wenn man als in der Werbebranche tätiger Anwalt seit dem Entwurf zur E-Privacy-Verordnung schon etwas besorgt sein sollte.

Obwohl die Schweiz nicht in der EU ist…
Vorab gilt es klarzustellen, dass sich ein Schweizer Unternehmen den neuen EU-Regularien nicht einfach aufgrund des Territorialitätsprinzips entziehen kann. Der Geltungsbereich der neuen EU-Verordnungen ist sehr weit gefasst, und ein Unternehmen in der Schweiz wird ohne weiteres von den Regularien erfasst. Dies ist beispielsweise bereits dann der Fall, wenn Personendaten von Personen mit Aufenthalt in der EU bearbeitet werden, um deren Verhalten zu beobachten, was auf eine klassische Data-Management-Plattform zur Nutzerprofilbildung klar zutreffen würde.

Philipp Stamm_Head of Legal_Goldbach Group AG (1)


Und weshalb nun der Grund zur Besorgnis?
Der Entwurf geht sachlich in diversen Punkten weiter als die bereits beschlossene Europäische Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) oder auch als der Vorentwurf des totalrevidierten Datenschutzgesetzes und steht in einigen Elementen stark gegen die Interessen der Werbewirtschaft und damit indirekt auch der gesamten Medienbranche. Die wichtigsten verabschiedeten Punkte sind, dass Identifier wie beispielsweise Cookies nur noch nach vorgängiger expliziter Einwilligung durch den Nutzer eingesetzt werden dürfen. Eine solche explizite Einwilligung wäre unter der DSGVO für Direktmarketing noch nicht zwingend notwendig gewesen, da nach überwiegender Lehrmeinungen eine Opt-out-Möglichkeit ausgereicht hätte.

Und ein weiterer negativer Punkt?
Weiter wurde im Entwurf ein Verbot von Tracking Walls beschlossen, da ein Nutzer nicht zur Annahme von Identifiern gezwungen werden soll, um Zugang zu Onlineinhalten zu erhalten. Diese beiden Neuerungen ergeben – kombiniert mit dem Beschluss darüber, dass alle Nutzer ihre Privacy-Einstellungen im Internetbrowser vorangeben sollen und der Internetbrowser standardmässig eine möglichst nutzerfreundliche Voreinstellung haben muss – eine besonders gefährliche Ausgangslage für die Medienindustrie. Die Nutzer werden naturgemäss zögern, die nutzerfreundlichen Voreinstellungen abzuändern. Dies wird für alle Online-Publisher dazu führen, dass sie regelmässig eine explizite Einwilligung einholen müssen, um weiterhin nutzungsbasierte Werbungen auf ihrer Internetseite ausspielen zu können.

Die Konsequenzen sind also weitreichend…
Ja, die Konsequenzen dieses Entwurfes betreffen einerseits den Nutzer, welcher je nach Voreinstellung in seinem Browser nun jedem Cookie-Einsatz explizit zustimmen muss. Die Identifier dienen dazu, zielgruppenspezifische Werbung ausstrahlen zu können. Ohne sie können keine solchen Zielgruppen mehr erstellt werden – und somit würde die gesamte zielgruppenspezifische Werbung stark geschwächt bis verunmöglicht.

Und andererseits?
Die Finanzierung von Gratisinhalten im Internet würde durch die Verschärfung der Einwilligungserfordernisse enorm erschwert. Man kann befürchten, dass kostenfreie Internetangebote entweder kostenpflichtig werden oder sonst mangels Finanzierungsgrundlage sogar ganz verschwinden. Jedes Angebot muss auf irgendeine Weise finanziert werden: durch Abos, durch Paywalls oder eben durch Werbung. Wenn zielgruppenspezifische Werbung nicht mehr geschaltet werden kann, da der Nutzer keine Identifier akzeptieren möchte, wird dem Medienanbieter eine der wichtigsten Finanzierungsmöglichkeit genommen. Ein schärferer Datenschutz also zu Lasten der Medienfreiheit.

Nicht eher die Chance für Medienanbieter, nun flächendeckend Paywalls einführen zu können?
Als Chance würde ich das nicht bezeichnen, eher als wohl einzige Möglichkeit zur Finanzierung von Medieninhalten. Es ist auch fraglich, ob die Nutzer künftig tatsächlich dazu bereit sind, für bislang kostenlos angebotene Inhalte etwas zu bezahlen. Und ob die Einnahmen über die neuen Paywalls die bisherigen Einnahmen über Werbungen auch ersetzen können. Eine weitergehende Abwanderung in frei zugängliche Informationsquellen wie beispielsweise in den Sozialen Medien, die ihre Einwilligung übrigens über den Login einholen, ist ebenfalls zu befürchten.

Tamedia will den Lesern neu vermitteln, dass Inhalte auch im Internet eben nicht gratis sind und geht gegen Adblocker vor (persoenlich.com berichtete). Inwiefern könnte dies mit der E-Privacy-Verordnung im Zusammenhang stehen?
Eine Sensibilisierung darauf, dass Inhalte auch im Internet nicht gratis sind, ist sicher sinnvoll. Ob dies mit dem Entwurf zur E-Privacy-Verordnung zusammenhängt, müssen Sie Tamedia-CEO Christoph Tonini fragen. Auf alle Fälle wäre die von Tamedia angekündigte Tracking Wall unter den Bestimmungen der E-Privacy-Verordnung fragwürdig und würde meines Erachtens gegen das bereits erwähnte Verbot von Tracking Walls verstossen.

Betrifft diese Verschärfungen eigentlich auch Targeted Advertising am Fernsehen? Der Bund will dies ja erlauben.
Ja klar, sofern in Zukunft über IPTV mittels Setzen von Identifiern Nutzerdaten gesammelt und daraus Nutzerprofile gebildet werden, um anschliessend nutzungsbasierte Werbungen auszuspielen, wären die genannten Regeln genau gleich anwendbar. Auf welchem Endgerät die nutzungsbasierte Werbung ausgespielt wird, ist letztlich egal. Datenschutzrechtlich relevant ist einzig das Sammeln und Bearbeiten von Identifiern.

Wer wäre mehr betroffen, sollte der Entwurf beschlossen werden: die Werbewirtschaft oder der Nutzer?
Beide. Und dies nicht nur zum Guten: Der Nutzer würde ununterbrochen bei jeder Seite einem Cookie-Einsatz zustimmen müssen, und viele Inhalte würden aufgrund fehlender Finanzierungsgrundlage ganz verschwinden.

Aber ein schärferer Datenschutz ist sicher im Sinne der Nutzer.
Klar würden die Nutzer sowie deren Daten durch die neuen Regeln stärker geschützt, jedoch muss sich ein Nutzer von Gratisinhalten auch bewusst sein, dass diese Inhalte irgendwie finanziert werden müssen. Es ist aus meiner Sicht eben fraglich, ob der Nutzer in Bezug auf Profilbildungen zur Auslieferung von nutzungsbasierten Werbungen tatsächlich derart stark in seiner Privatsphäre betroffen sein soll, dass er hierzu stets seine explizite Einwilligung geben muss. Anders wäre die Sachlage, wenn seine Nutzerdaten beispielsweise zur Bildung von Gesundheitsprofilen benutzt werden, um anschliessend entscheiden zu können, ob dem Nutzer noch eine Krankenkassenzusatzversicherung angeboten werden soll oder nicht. Es sollte zwischen verschieden gelagerten Motivationen zur Datenbearbeitung unterschieden werden und nicht für alle per se eine explizite Einwilligung erforderlich sein.

Wie kann sich die Branche nun vorbereiten?
Die Branche sollte derzeit vor allem alles Mögliche unternehmen, um den Nutzern aufzuzeigen, welche negativen Folgen die neuen Regularien im üblichen Internetgebrauch haben können. So kann eine Verabschiedung der E-Privacy-Verordnung durch die zuständigen EU-Organe eventuell noch verhindert werden. Mit dem Beschluss des Parlaments geht der Entwurf nun in den sogenannten Trilog zwischen den verschiedenen EU-Institutionen. Bei den Verhandlungen mit den Vertretern der Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission kann sich die Substanz der Verordnung noch deutlich ändern. Es ist zu hoffen, dass in diesen Verhandlungen auch die Interessen der Industrie berücksichtigt werden und eine für alle involvierten Parteien verträgliche Lösung gefunden wird. Zudem sollten alle von den EU-Verordnungen betroffenen Unternehmen bereits heute zumindest einen Opt-out-Mechanismus mit entsprechender Datenschutzerklärung implementieren, da sie diesen mit Inkrafttreten der EU-DSGVO sowieso anbieten müssen.

 

 



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