von Edith Hollenstein
Herr Grossenbacher, Sie unterrichten diese Woche an der ZHdK. Was für einen Eindruck haben Sie von Ihrer Klasse?
Das Ziel ist, ein kleines datenjournalistisches Erklärstück zu bauen. Zur Einführung habe ich den Studierenden einen Einblick in unsere Gesichtserkennungs-Recherche vom Wochenende gegeben, und in ein Erklärstück zu Roger Federer. Sie waren – das glaube ich zumindest – ziemlich begeistert. Sie verstehen, dass Journalismus weit mehr sein kann als Text, Ton und Bild.
Wo haben die Studierenden jeweils besonders hart zu beissen?
Mit etwas, mit dem ich am Anfang meiner journalistischen Karriere auch Mühe hatte: Mit der Ideenentwicklung. Zu unterscheiden zwischen einem Thema, einer konkreten Idee und einer guten Geschichte. Das kann ich ihnen in ein paar Tagen leider nicht beibringen. Aber vielleicht kann ich sie für eine journalistische Karriere begeistern – Quereinsteiger bereichern unseren Beruf, finde ich.
Sie werden SRF im Sommer verlassen. Haben Sie von sich den Kontakt zu Tamedia gesucht oder kam das Unternehmen auf Sie zu?
Sagen wir es so: Die Stelle wurde ausgeschrieben, und dann kamen wir relativ schnell ins Gespräch. Generell ist man in dieser kleinen Datenjournalismus-Szene sowieso recht gut vernetzt.
«Der Fall Clearview hatte bereits Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft»
CH Media baut ja auch an einer Abteilung «Data & Automation», Keystone-SDA sucht einen Nachfolger für Textroboter-Erfinder Stefan Trachsel und die NZZ muss ebenfalls Data-Stellen neu besetzen. Geht es bei den privaten Medienhäusern zurzeit schneller voran als bei SRF?
Das kann man so sicher nicht sagen. Einerseits gab es durch die Abgänge bei der NZZ sicher ein Rumpeln in der sonst eher statischen Datenjournalismus-Szene. Solche Geschehnisse bringen manchmal den nötigen Wind, dass sich neue Möglichkeiten eröffnen, neue Projekte gewagt werden, neue Stellen zu besetzen sind. Anderseits hat SRF bereits vor über fünf Jahren erkannt, dass ein eigenes Datenjournalismus-Team mit genügend Ressourcen ein erfolgsversprechendes Modell ist, gerade auch für den Service Public. Das war sicher Pionierarbeit. Andere Medienhäuser, auch beim Rundfunk in Deutschland, haben dann erst ein paar Jahre später nachgezogen. Solche «Innovationen» passieren aus meiner Sicht in Wellen – von ein paar Stellenwechseln und neuen Projekten auf «schnell» oder «langsam» zu schliessen, wäre verkürzt.
Auffallend viele gute Leute verlassen SRF, so etwa Matthias Hüppi, Steffi Buchli, Jonas Projer, Adrian Arnold oder kürzlich Marc Meschenmoser. Ist SRF tatsächlich zu einem Medienarbeitgeber geworden, wie alle anderen Verlagshäuser der Schweiz, wie es die NZZaS geschrieben hat?
Ich denke, es gibt immer individuelle Gründe. Und als Person, die der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht abgeneigt ist: Was nach einem Muster aussieht, kann einfach auch Zufall sein. Deswegen fände ich es vermessen, mich dazu zu äussern.
«Die Rahmenbedingungen bei SRF sind einzigartig»
Was ist für Sie persönlich bei TX Group besser als bei SRF?
Ich glaube, es geht nicht um besser oder schlechter. «Anders» ist mir wichtiger. Ich war jetzt über fünf Jahre bei SRF und konnte beim Aufbau eines Teams, das komplett neue Wege beschritt, mithelfen. Ich würde meinen, uns ist vieles gelungen, wir haben gezeigt, dass Datenjournalismus auch bei einem grossen Service-Public-Anbieter wie SRF sehr gut funktionieren kann. Nun kann ich getrost sagen: Job done. Mich reizt es vor allem, meine Fähigkeiten nun in einem anderen Marktumfeld unter Beweis zu stellen.
In der NZZ am Sonntag war zudem zu lesen, dass bei SRF zu wenig Aufbruchsstimmung herrsche. Vermissen auch Sie eine klare Vision?
Auch hier kann ich nur von mir reden. Ich habe die letzten fünf Jahre immer mit einer Vision gearbeitet. Und zwar die einer innovativen, lehrreichen, interessanten und fehlerfreien Publikation, die am Schluss auch irgendwo Impact hat. Das ist uns oft gelungen, manchmal gab es auch Herausforderungen – wie überall in der Medienbranche. Aber es war immer Antrieb und Erfüllung. Und hier möchte ich einfach betonen: Die Rahmenbedingungen, die SRF dafür geschaffen hat, waren und sind einzigartig.
In Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich mit Datenschutz, Deep Fakes, E-Voting oder mit Gesichtserkennung, wie in einem 10vor10-Beitrag vom Freitag. Waren Sie selber erstaunt über Ihr Experiment mit der Gesichtserkennungsmaschine?
Ich kann nur ein Gefühl wiedergeben, das ich hatte, als ich diese «Maschine» zum ersten Mal anwarf und die zahlreichen Treffer sah, wo PolitikerInnen in grossen Menschenmassen, von der Seite und im Halbdunkel erkannt wurden. Da lief es mir kalt den Rücken runter. Rein aus technologischer Sicht hat es mich aber eigentlich wenig erstaunt. Beeindruckende Technologien der künstlichen Intelligenz sind heute frei und massentauglich verfügbar. Bedrückend ist eher, wie schlecht uns soziale Medien immer noch vor solchem Daten-Klau schützen.
Gesichtserkennung wurde zum Thema nach den Recherchen der NYT zu Clearview. Was für eine Tragweite hat diese Recherche Ihrer Meinung nach?
Eine riesige, ganz klar. Das sieht man einerseits an den Reaktionen in den sozialen Medien und an den zahlreichen Nachzügen, auch international. Andererseits hatte es – soweit ich das verstehe – bereits konkrete Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. Zum Beispiel die Pläne für flächendeckende Videoüberwachung an Bahnhöfen in Deutschland, die auf Eis gelegt wurden. Da sehe ich schon einen Zusammenhang. Das zeigt auch schön, wie gut gemachter Tech-Journalismus heute einen Impact haben kann.
«Digitale Selbstverteidigung wird wichtiger, und wir Medienschaffenden gehören sicher zu den besonders gefährdeten Angriffszielen»
Und wie betrifft sie die Schweiz?
Genau so wie andere Länder auch, das Internet ist ja global. In der Schweiz hat der eidgenössische Datenschützer bereits reagiert und ein Communiqué veröffentlicht, in dem er Clearview um Auskunft geboten hat. Die Behörden hat er anscheinend auch davor gewarnt, solche Technologien ohne Gesetzesgrundlage einzusetzen. Ich glaube, Recherchen wie die über Clearview und die unsere, verdeutlichen den Entscheidungsträgern einfach auch erst, was solche Technologien für Auswirkungen haben könnten. Ich bin sicher, dass man ohne diese Recherchen weniger sensibilisiert wäre.
In Bezug auf Datenschutz können Sie vielleicht uns JournalistInnen Tipps gegeben für die Kommunikation mit Quellen und Informanten: Welche E-Mail- und Nachrichtendienste beurteilen Sie als sicher, respektive nutzen Sie selber?
Das ändert ständig – und ist abhängig davon, wovor man sicher eigentlich schützen will. Eine gute Grundlage ist sicher einmal die «kurze Anleitung zur digitalen Selbstverteidigung», die sollte sich jeder Journalist und jede Rechercheurin zu Herzen nehmen. Aber gut sprechen Sie mich darauf an: Ich habe immer wieder im Themenbereich Cybersecurity und Datenschutz recherchiert und sehe das auch weiterhin als mein journalistisches Spezialgebiet. Dazu gehört auch, dass ich mich stärker in der Weiterbildung von JournalistInnen engagieren möchte. Digitale Selbstverteidigung wird immer wichtiger, und wir Medienschaffenden gehören sicher zu den besonders gefährdeten Angriffszielen.
Bei Tamedia werden Sie für «Automated Journalism» verantwortlich sein. Wie gross ist Ihr Team?
Ich werde Teams primär auf Projektbasis leiten – deren Grösse und Zusammensetzung wird sich deswegen wohl immer wieder mal ändern.
Wo werden Sie ansetzen?
Das werden wir dann differenziert anschauen, wenn es im Juni so weit ist. Aus meiner Sicht hat automatisierter Journalismus verschiedene Spielarten: Einerseits die Automatisierung und auch Personalisierung der Berichterstattung bei wiederkehrenden Ereignissen. Das können Abstimmungen, Fussballmatches oder Börsenergebnisse sein.
Und sonst?
Da gibt es noch ein grosses Potenzial, auch in der automatisierten Erstellung von Grafiken beispielsweise. Andererseits verstehe ich die Automatisierung grundsätzlich als Kern des Datenjournalismus und des modernen Recherchejournalismus. Erst dadurch werden viele Recherchen überhaupt erst möglich. Diese Möglichkeiten möchte ich den KollegInnen aus den Redaktionen noch stärker vergegenwärtigen und sie damit unterstützen. Klar ist für mich: Automatisierung ist in grossen Teilen primär ein Hilfsmittel und wird sich auch nicht verselbstständigen. Es macht aus meiner Sicht also durchaus Sinn, dass technikaffine JournalistInnen wie ich, hier neue Produkte und Methoden entwickeln.
Timo Grossenbacher hat die Fragen schriftlich beantwortet