12.05.2020

Serie zum Coronavirus

«Der Schock sitzt mir immer noch in den Knochen»

Folge 41: Die Politologin und Autorin Regula Stämpfli wohnt in München. Während des Shutdowns erlebte sie die Stimmung dort als extrem aggressiv. Das Virus werde unsere Gesellschaft sowie die Politik nachhaltig verändern.
Serie zum Coronavirus: «Der Schock sitzt mir immer noch in den Knochen»
Regula Stämpfli an der Dreikönigstagung im Jahr 2013. (Bild: Keystone/Gaetan Bally)

Frau Stämpfli, Sie leben in München. Wie fest ist Ihr Alltag durch die Krise beeinträchtigt?
Die Krise hat mein ganzes Schaffen auch in den Shutdown verdammt. Durch die Grenzschliessungen wurde meine Dozentinnen-Tätigkeit abrupt unterbrochen, Kongresse und Tagungen abgesagt, was nicht nur Honorarausfall, sondern auch den Verkauf meiner Bücher einschränkte und gleichzeitig durften meine Assistenten, mit denen ich zwecks neuen Podcast eine Klausur geplant hatte, nicht einreisen. Zudem machten mich die doofen Zoom-Konferenzen extrem müde und ich dachte immer: This Black Mirror Episode sucks.

Wie haben Sie die letzten beiden Monate erlebt?
Ich halte es mit Shakespeare: «Der warme Tag ist's, der die Natter erzeugt». Das einzig Gute an den Monaten waren meine zauberhaften, klugen, grossen und schöne Söhne. Hätte nie gedacht, dass wir alle mal wieder in einer gemeinsamen grossen WG landen würden.

Wie ist es als «Auslandschweizerin» vollkommen abgeschnitten von der Heimat?
Ich bin ja überall zuhause: Heimat ist dort, wo ich verstanden werde und verstehen kann. In dem Sinne hatte ich seit März kein zuhause mehr. Denn ich fühlte mich in meiner Wahrnehmung der paternalistischen Art der Experten zunächst überhaupt nicht bestätigt. Zudem unterscheiden sich München und Zürich kaum. Wirklich schlimm ist natürlich die Grenzschliessung. Jetzt zeigt es sich, wie eng Staatsbürgerschaft und Wohnort zusammenhängen.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
Die Stimmung in München war vor den Lockerungen, die Ministerpräsident Söder entgegen seinem Schliessungswahn früher als geplant einführen musste, extrem aggressiv. Deutsche sind ja eh keine charmanten Lächler im öffentlichen Raum. Es geht immer etwas ruppig zu, die Bayern sind ja für ihr Grantlertum berühmt. Doch durch die Wochen des Shutdowns liefen die Leute wie schlechtgelaunte Maikäfer rum. Überall wurde gemotzt «Distanz wahren», «Halten Sie die Kinder (wahlweise den Hund) fern» und überall fuhren Polizeiautos. Sehr unangenehm, wirklich. Schön war nur die Natur. Doch das ist sie immer.

Sie sind Politologin. Wird Corona unsere Gesellschaft und die Politik nachhaltig verändern?
Selbstverständlich. Wer das Gegenteil behauptet ist ein Dummkopf. Menschen sind Gewohnheitstiere. Während acht Wochen Distanz einüben, sich von oben vorschreiben lassen, wann man wie gekleidet auf die Strasse darf oder nicht, wie man tausend Seiten Formulare ausfüllen muss, um zu einer Coronaentschädigung vom Staat zu kommen, acht Wochen nie in ein Restaurant zu gehen, sich mit Freunden in einer Bar zu betrinken oder im Fitnessstudio über sich lachen zu dürfen.... das verändert die Menschen nachhaltig. Punkto Politik bin ich auch sehr skeptisch: Wer auch nur einmal von der Macht gekostet hat, so wie die Politikerinnen und Politiker, die Virologen und andere Experten der letzten Wochen, wird sich schwertun, diese einfach so abzugeben.

Wer macht es besser, die Deutschen oder die Schweizer?
Da sehe ich keinen Unterschied, ausser dass die Corona-Entschädigungen in der Schweiz besser zu laufen scheinen und Bayern einfach krasser punkto Autoritarismus ist.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Tage?
Der Schock darüber, wie quasi über Nacht alles, was bisher selbstverständlich schien, ausser Kraft gesetzt wurde, sitzt mir immer noch in den Knochen. Und wie schnell sich die Menschen hinter Bildschirme setzten und so taten als wäre nichts passiert! Dabei ist, ganz real, in unser gesellschaftliches, demokratisches und kulturelles Leben eine Bombe eingeschlagen. Diese Fassungslosigkeit wie schnell das geht, wird mich bis ans Lebensende verfolgen. Auch die damit verbundene Einsamkeit, dass wohl nur ich auf diesen massiven Einschlag in die Welt von Gestern so traumatisch registriere. Was auch bleibt: Die Wut darüber, dass ausgerechnet wieder die Frauen das Land am Laufen halten (Stichwort «systemimmanente Berufe»), aber es vorwiegend die Männer sein werden, die vom wochenlangen Ausnahmezustand profitieren werden.



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier


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