05.08.2020

Serie zum Coronavirus

«Wir wollten das Festival nie absagen»

Am Mittwoch ist das Locarno Film Festival gestartet. Der operative Leiter Raphaël Brunschwig ist zuversichtlich, dass es ein Erfolg wird. Er spricht in Folge 94 unserer Serie über die Neuerungen und Höhepunkte und sagt, wie die Filmbranche unter der Krise gelitten hat.
Serie zum Coronavirus: «Wir wollten das Festival nie absagen»
«Die Stärke des Festivals hängt von verschiedenen Faktoren ab», sagt Raphaël Brunschwig, Chief Operation Officer (COO) des Locarno Film Festivals. (Bild: Beat Schweizer)
von Matthias Ackeret

Herr Brunschwig, das Locarno Film Festival startete am Mittwoch. Was hat Sie bewogen, die Veranstaltung trotz Corona durchzuführen?
Eigentlich war eine Absage für uns nie eine echte Option, darüber waren sich unser Festivalpräsident Marco Solari und der Verwaltungsrat immer im Klaren. Unsere Überlegungen haben sich an drei Zielen orientiert: Erstens ging es darum, das wirtschaftliche Überleben und die Kontinuität der Veranstaltung zu sichern. Zweitens wollten wir die Positionierung, das Renommee und die Glaubwürdigkeit, die sich das Festival in mehr als 70 Jahren erarbeitet hat, erhalten. Und last but not least haben wir uns vorgenommen, diese Krise in eine Chance zu verwandeln und einen bereits angedachten Wandel schneller eingeleitet, als geplant. Ich denke an die Optimierung der Kommunikationsprozesse und die Entwicklung neuer, digitaler Plattformen. Locarno 2020 bildet den ersten Schritt einer langfristigen Strategie: Das zukünftige Festival wird einen hybriden Charakter haben und sich zeitlich und geografisch weiter ausdehnen können. 11 Tage in Locarno, 365 Tage weltweit.

Welche Einschränkungen mussten Sie vornehmen?
Als der Bundesrat im April Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen verbot, hat uns das zu Waisen der Piazza Grande gemacht. Aber nicht nur. Auch die meisten unserer 13 Kinos und die vielen frei zugänglichen und sehr beliebten Rahmenprogramme sind betroffen. Wir mussten das Festival von Grund auf neu denken, und das ohne die Einnahmen von über 160'000 Tickets und im Wissen darum, dass online nicht reproduziert werden kann, was normalerweise in Locarno live passiert. Also suchten wir neue Wege, bauten Projekte radikal um und konzipierten neue. Dieses neue Festival bietet 83 Online-Vorführungen, 102 Kino-Vorführungen und ein gutes Dutzend Aktionen, die sich aus Master Classes, Podien, Schätzen aus unseren Archiven, digitalen Treffpunkten und gemeinsam mit unseren Partnern entwickelten Projekten zusammensetzen, angefangen bei den Hauptpartnern UBS, la Mobiliare, Manor, Swisscom und Ascona Locarno. Es liegt auf der Hand, dass wir das der Kompaktheit verdanken, mit der uns die institutionellen und privaten Partner zur Seite gestanden haben. Sie glauben an die Ideen hinter «Locarno 2020 – For the Future of Films» und haben mit uns gemeinsam Initiativen geschaffen, welche die Zukunft des Kinos und seine Talente fördern. Konkrete Einschränkungen vor Ort ergeben sich aus den Schutzkonzepten des Bundes, des Kantons Tessin und des Branchenverbandes Pro Cinema, an die wir uns für alle physischen Veranstaltungen halten.

«Das Festival ist eine Komposition, die aus vielen Teilen besteht»

Was sind die Höhepunkte des diesjährigen Festivals?
Locarno 2020 richtet die Schweinwerfer auf Programmsektionen, die für den Pioniergeist des Festivals und für den internationalen und nationalen Autorenfilm stehen. Symbol dafür ist beispielsweise der Wettbewerb «Pardi di domani», eine Talentschmiede, wo dieses Jahr 43 schweizerische und internationale Kurzfilme uraufgeführt werden und ein Pardino d'oro zu gewinnen ist. Dieses Programm kann sowohl physisch in einem Locarneser Kino gesehen als auch auf unserer Website kostenlos gestreamt werden. Die VoD-Screenings werden von 14 Film-Göttis und -Gotten begleitet, was uns ermöglich, eine Online-Community zu bilden. Das Festival ist eine Komposition, die aus vielen Teilen besteht, von denen jede einzelne eine eigene kleine Welt umfasst. Der eigentliche Höhepunkt ist für mich die komplette Oper. Ich denke, dass es uns gemeinsam mit dem Präsidenten, der künstlerischen Leitung und dem gesamten Team gelungen ist, das Potenzial dieser neuen Situation voll auszuschöpfen. Wir haben die Grundlagen für Neuerungen gelegt, auf die ein zeitgenössisches Festival von internationalem Ruf nicht verzichten kann. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass es uns gelungen ist, gemeinsam mit der Universität der italienischen Schweiz eine Professur einzurichten. Sie soll eine kritische Reflexion ermöglichen und die Zukunftsperspektiven des Festivals erweitern.

Hand aufs Herz: Kann in der gegenwärtigen Situation überhaupt eine Festivalstimmung aufkommen? Wie gross ist das Publikumsinteresse?
Hand aufs Herz: Nein, leider. Die Stärke des Festivals hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Programmqualität, der Anwesenheit der Gäste, dem Kontext, in dem es stattfindet, und der herzlichen Wärme, die ein grosses Publikum ausstrahlen kann. Leider sind diese Faktoren im gegenwärtigen Szenario kaum reproduzierbar. Unser sehr bunt gemischtes Publikum zeigt jedoch grosses Interesse und unterstützt diese Festivalausgabe. Unsere künstlerische Leiterin Lili Hinstin hat sie als «eine Sammleredition» bezeichnet. Wir sind alle neugierig, wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer uns in die drei geöffneten Kinos von Locarno und Muralto oder online folgen werden.

Wie fest leidet die Kino- und Filmbranche generell unter der ganzen Situation?
Sehr! Während dem Lockdown wurde alles gestoppt, angefangen bei Dreharbeiten, über den Filmverleih bis hin zu den Kinos. Sie befinden sich in einer dramatischen Situation und es gibt viele, die um ihr Überleben fürchten. Der Wunsch, wieder voll in die angestammten Tätigkeitsbereiche einsteigen zu können, ist riesig. Gemeinsam mit den Partnern von Locarno 2020 und im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir konkrete Solidaritätsinitiativen ins Leben gerufen – etwa «The Films After Tomorrow» oder «Closer to Life». Sie unterstreichen unsere Werte und verdeutlichen, dass die Dynamik zwischen Film, Publikum, Kinos und dem Festival ein wertvolles Ökosystem bildet.

«Die globale Gesundheitskrise wirkt wie ein Katalysator»

Wird sich die Filmbranche wegen Corona grundlegend verändern?
Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir alle drei Monate oder länger damit verbracht haben, Filme zu streamen, verstehen wir sofort, vor welch grossen Herausforderungen die Kinos und Filmverleiher schon vor dem Lockdown standen. Die globale Gesundheitskrise wirkt wie ein Katalysator. Der Wandel entwickelt und beschleunigt sich ständig weiter, insbesondere im Vertrieb. Heute können Filme gleichzeitig in den Kinos und online starten. Dies ist aber auch eine Chance. Denn es gibt immer mehr Filme und auch die Zahl der Menschen, die online neue Filme entdecken möchten, ist gestiegen. Es ist zu hoffen, dass die Kinos auch dieses neue Publikum anziehen können und die Magie des Kinoerlebnisses mit ihm weiterlebt. Das alles scheint die Rolle der Festivals momentan nicht in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Wir sind überzeugt, dass in einer technologie-affinen Welt, wo uns immer mehr unmittelbare und informelle individuelle Erfahrungen offen stehen, die kollektive Erfahrung eines Festivals eher an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen wird.

Sie selber haben eine intensive Beziehung zum Tessin: Sie sind mit Ihren Zürcher Eltern abseits der Zivilisation in einem Wald im Tessin aufgewachsen. Was war der Grund für diesen aussergewöhnlichen Schritt?
Mein Vater wollte Zürich verlassen und in der Natur leben. Meine Mutter hatte gerade ihre Diplomarbeit über einen mexikanischen Indianerstamm aus der Sierra Madre Occidental abgeschlossen, wo sie eine Zeit lang mit meinem Vater zusammengelebt hatte. Als die beiden in die Schweiz zurückkehrten und nicht mehr in Zürich leben wollten schien das Tessin – konkret ein Wald, der eine halbe Stunde von Lugano entfernt liegt – eine gute Option zu sein.

Inwiefern hat Sie diese Erfahrung geprägt?
Das Aufwachsen in der Natur hat mir sicherlich eine grosse innere Freiheit gegeben. Die Herausforderung bestand darin, diese innere Freiheit mit den Regeln der Gesellschaft zu verbinden. Beim Locarno Film Festival finde ich gute Rahmenbedingungen für diese Synthese.

«Die letzten Monate waren wie ein beschleunigter Kurs im Krisenmanagement»

Worauf freuen Sie sich in den nächsten Tagen am meisten?
Wenn ich darüber nachdenke, wieviel Herzblut wir in die Vorbereitung der nächsten elf Tage gesteckt haben, hoffe ich auf einige aussergewöhnliche, kollektive Kinomomente. Das gesamte Team würde sich sehr über den Besuch unseres Stammpublikums freuen. Die ersten Signale stimmen uns zuversichtlich.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Monate?
Die letzten Monate waren wie ein beschleunigter Kurs im Krisenmanagement. Bis Ende April erarbeiteten und verwarfen wir unzählige Szenarien. Die Prioritäten lagen je nach dem beim Publikum, bei der Filmindustrie, bei den Künstlerinnen und Künstlern oder bei den Partnern. Jedes Drehbuch hatte seine eigenen Fristen, Budgets, Risiken, Herausforderungen und Chancen. Ich hoffe, dass diese Erfahrungen es uns erlauben, uns im Jahr 2021 in der besten aller Welten und als das Rundum-Festival zu präsentieren, das wir in den kommenden Tagen so sehr vermissen werden.



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.
 



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