06.06.2023

IWP

«Die Fakten sollen zum Nachdenken anregen»

Unter dem Motto «Fakten statt Meinungen» lanciert das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) zusammen mit dem Werber Frank Bodin eine Plakatkampagne. Geschäftsführer René Scheu über die Sujets und die Kritik an seinem Institut.
IWP: «Die Fakten sollen zum Nachdenken anregen»
«Gute Diskussionen beginnen mit einem Faktenfundament», sagt der frühere NZZ-Feuilletonchef und heutige IWP-Geschäftsführer René Scheu. (Bild: zVg)

René Scheu*, alle haben heute eine Meinung. Was heisst das eigentlich – meinen?
Philosophisch gesagt: Meinen ist daherreden ohne Wahrheitsanspruch. Ökonomisch: Meinen kostet nichts. Jeder kann immer und überall irgendetwas über irgendetwas meinen.

Weil man gut dastehen will?
Oder weil man seine Vorurteile inbrünstig pflegen will. Meinungen wachsen – um ein Bonmot von Constantin Seibt zu zitieren – wie Haare, nicht aus der Nase, sondern aus dem Mund. Es sind die unfundierten Behauptungen von anderen. Werden sie oft genug wiederholt, gelten sie plötzlich als gesellschaftliche Gewissheiten – und werden zu dem, was Herder, Goethe und andere Zeitgeist nannten. Obwohl sie nicht stimmen müssen.

Zum Beispiel?
Bezogen auf die Schweiz: dass der Staat kaputtgespart werde. Dass die Einkommensungleichheit seit Jahren und Jahrzehnten wachse. Dass die Gesellschaft keine Aufstiegschancen biete. Oder dass Gutverdiener ihren Beitrag zum Steuerstaat nicht leisten. All das stimmt nicht. Und dennoch geistern solche Meinungen in Medien und Köpfen herum.

«Natürlich sind Daten nie perfekt, aber sie sind das Beste, was wir haben»

Und dagegen will das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern Fakten halten. Aber sind Fakten denn immer so eindeutig?
Fakten beruhen auf Evidenz – also auf Daten. Natürlich sind Daten nie perfekt, aber sie sind das Beste, was wir haben. Gute Diskussionen beginnen mit einem Faktenfundament. Zum Beispiel: die 10 oberen Prozent der Einkommensbezüger bezahlen in der Schweiz rund 50 Prozent aller Steuern. Man kann das loben oder beklagen – aber man kann die Fakten nicht ignorieren. Ich halte es mit Voltaire: «Misstraue den Menschen, die die Wahrheit gefunden haben, und vertraue denen, die sie suchen.»

Sie starten nun eine Plakatkampagne mit dem IWP. Was und vor allem wen wollen Sie damit erreichen?
In einer Zeit, in der gefühlte Wahrheiten vorherrschen, möchte das IWP den Wert von belastbaren Zahlen und Fakten für die Schweizer Wirtschaftspolitik in Erinnerung rufen. Natürlich sollen die präsentierten Fakten auch zum Nachdenken anregen oder zu einem Schmunzeln anstiften. Zum Beispiel: Heute haben fast 30 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz einen Hochschulabschluss – 1996 waren es 9,5 Prozent. Oder: die erste Staatsrechnung von 1849 hatte 18 Seiten, die heutige umfasst 1206 Seiten.

Erreicht eine Universität damit ihre Zielgruppe?
Das IWP forscht und kommuniziert unabhängig von der Universität Luzern – die Plakate sind eine Initiative des IWP. Die Zielgruppe ist weit gefasst: Es sind grundsätzlich alle Stimmbürger.

Wieso haben Sie ausgerechnet Plakate als Medium gewählt?
Weil Plakate den Charakter des Faktischen unterstreichen: Die Zahlen stehen da Schwarz auf Weiss. Sie schauen die Passanten an, und irgendwann blicken die Passanten zurück und machen sich so ihre Gedanken.

Was wollen Sie denn mit den Zahlen sagen?
Wir wollen nichts sagen, wir wollen zeigen. Zeigen, was Fakt ist. Was die Fakten darüber hinaus bedeuten, entscheidet jeder für sich. Wir präsentieren die Fakten nicht nur an Plakatstellen, sondern auch auf einschlägigen Newswebsites. Im Falle der Kommunikation gilt, wie Sie wissen: einmal ist keinmal. Aber fünfmal ist einmal. Die Aufmerksamkeit der Leute ist ein kostbares Gut.

Haben Sie die Kampagne selber entworfen?
Wir haben sie zusammen mit Frank Bodin entwickelt und umgesetzt, dem Kreativkopf von Zürich. Er war unser härtester Richter: Kurz müssen die Botschaften sein, klar und verständlich. Keine Formulierungen um drei Ecken herum, sondern eben möglichst wenige Buchstaben und: Zahlen, Daten, Fakten.

Wie teuer ist diese Kampagne?
Dazu machen wir keine Angaben. Finanziert wird die Initiative von der Stiftung Schweizer Wirtschaftspolitik.

Woher kommt das Geld der Stiftung?
Von allen, die der Stiftung Geld spenden, es sind inzwischen über drei Dutzend Donatoren. Bisher handelt es sich vor allem um Privatpersonen, Vertreter von KMU, Institutionen und öffentliche Körperschaften, die das IWP unterstützen. Mit der Kommunikationsinitiative möchten wir auch unseren Unterstützerkreis weiter vergrössern: Spenden kann nur, wer uns kennt. Das Crowdfunding hat begonnen.

«Wer heute forscht und Wissenschaft betreibt, muss sich auch überlegen, wie er das Wissen an die Leute bringt»

Eine solche Kampagne ist sicher nicht ganz billig. Werden dabei nicht Gelder verbraucht, die man beispielsweise in die Forschung und das Ausbildungsprogramm investieren könnte?
Wer heute forscht und Wissenschaft betreibt, muss sich auch überlegen, wie er das Wissen an die Leute bringt – damit es eben nicht im akademischen Elfenbeinturm eingeschlossen bleibt. Die Kommunikationsinitiative ist ein Weg, Leute direkt anzusprechen und sie für Wirtschaftspolitik zu begeistern. Sind sie dann einmal auf unserer Website, eröffnet sich ihnen ein Panoptikum von weiteren Wirtschaftsfakten und Themen.

Watson, aber auch die Republik haben Ihnen vorgeworfen, eine politische Agenda unter wissenschaftlichem Deckmantel zu führen. Ärgert – oder schmeichelt Ihnen – diese Kritik?
Natürlich ist es schön, wenn Kollegen über uns berichten – wir wollen ja tatsächlich als verlässliche Stimme in der wirtschaftspolitischen Diskussion noch bekannter werden. Anderseits ist es auch nervig, wenn man ständig mit denselben faktenfreien Behauptungen konfrontiert wird. Das IWP hat nur eine Agenda – nämlich die Forschungsagenda, und die setzt es selbst. Nochmals fürs Protokoll: Das Institut steht in niemandes Interesse oder Dienst und nimmt auch von niemandem Weisungen entgegen.

Ihr Institut lebt unter anderem von privaten Mäzenen. Die WOZ bezeichnete es als «Denkfabrik für Reiche». Ist da überhaupt «unabhängige Forschung» möglich?
Dieses Etikett ist billige Polemik und grenzt an Verleumdung. Es insinuiert, Donatoren hätten Einfluss auf die Forschung des IWP. Das stimmt nicht, die Unabhängigkeit des IWP ist gewährleistet und öffentlich verbrieft. Wäre dies nicht der Fall, wären ja unsere Forscher längst über alle Berge. Dieses Etikett ist ein Ablenkungsmanöver, um sich nicht mit den Inhalten des IWP beschäftigen zu müssen. Was wir an Wissen und Erkenntnissen generieren, machen wir frei zugänglich und damit überprüfbar. Wir legen alle Referenzen, Quellen, Daten und Methoden offen. Wir sind der Wissenschaft verpflichtet, auch wenn die Ergebnisse manchen politisch-ideologischen Interessensgruppen nicht gefallen. Eben weil wir unabhängig sind, können wir uns dies erlauben.

Wie garantieren Sie die Unabhängigkeit des IWP?
Das IWP ist eine akademische Festung. Erstens ist es intellektuell unabhängig – es gilt die Freiheit von Forschung und Lehre, das ist öffentlich verbrieft. Darauf kann am IWP niemand Einfluss nehmen, auch nicht die Universität. Zweitens inhaltlich – es ist in der inhaltlichen Arbeit und Themensetzung völlig autonom. Auch darauf kann niemand Einfluss nehmen, auch nicht der Stiftungsrat. Drittens organisatorisch – es organisiert sich selbst.

Sie halten also private Drittmittel für Forschung für unproblematisch?
Das Geld für öffentliche Forschung fällt ja nicht vom Himmel. Bund und Kantone werden auch von privaten Geldgebern – genannt Steuerzahlern – finanziert. Das Geld für Forschung kommt stets von Bürgern – sie geben es über Steuern oder freiwillig. Es gehört selbstverständlich zu den Grundaufgaben des Staates, Bildung und Forschung zu fördern. Ohne private Drittmittel käme die Forschung jedoch nicht weit. Wichtig ist bei staatlichen oder privaten Forschungsgeldern eine saubere Governance – und die öffentliche Verbriefung der Forschungsfreiheit. Die ist gewährleistet, wie gesagt.

«Im Feuilleton ist die Kür die Pflicht und die Pflicht die Kür. Ich lese es auch heute jeden Tag mit Genuss»

Sie sind nun genau zwei Jahre beim IWP. Haben Sie Ihren Abgang bei der NZZ nie bereut?
Alles zu seiner Zeit. Die NZZ ist ein grossartiges Medium – und das Feuilleton im besten Fall das Medium im Medium, das sich wonnevoll und furchtlos an der Gegenwart reibt. Im Feuilleton ist die Kür die Pflicht und die Pflicht die Kür. Ich lese es auch heute jeden Tag mit Genuss. Die Kollegen, die am Ruder sind, verstehen viel von ihrem Handwerk. Aber mein Fokus liegt heute auf dem IWP – noch einmal etwas Neues aufzubauen, hat mich gereizt. Ich habe es keine Sekunde bereut.

Wo soll das IWP in fünf Jahren stehen?
Da, wo es heute schon steht: auf dem Boden relevanter Forschungsfragen, überzeugender Forschungsresultate und gründlicher Allgemeinverständlichkeit. Das IWP ist für alle da. Wir geben uns Mühe, um in fünf Jahren als verlässliche, faktenbasierte Stimme in der wirtschaftspolitischen Diskussion noch breiter anerkannt zu sein – nicht primär von den Medien, sondern von den Stimmbürgern.

Ihr ehemaliger Arbeitskollege Jürg Müller, Wirtschaftsredaktor bei der NZZ, leitet neu Avenir Suisse. Haben Sie sich mit ihm bereits ausgetauscht?
Klar, ich habe ihm gratuliert. Jürg Müller ist ein feiner Intellektueller und ein kreativer Geist – genau die richtige Mischung für einen Thinktank.

Welchen Tipp werden oder würden Sie ihm geben?
Keinen. Er weiss, was er tut – er weiss es selbst am besten.


* René Scheu ist Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern (IWP). Der promovierte Philosoph hat von 2016 bis 2021 das Feuilleton der NZZ geleitet.


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KOMMENTARE

Felix Horlacher
07.06.2023 17:26 Uhr
Die Meinung von René Scheu zur Faktentreue ist bestenfalls naiv. Natürlich müssen Fakten und Daten stimmen und sie werden es wohl auch. Die Kernfrage ist doch, welche Fakten plakatiert und welche Themen damit exponiert werden. Hier sind Werturteile unvermeidlich. Es wird spannend sein zu verfolgen, ob das IWP Fakten publiziert, welche wahlweise rechte und linke Positionen stützen. Affaire à suivre ...
Ralph Hermann
07.06.2023 13:56 Uhr
Ein Faktenfundament ist sicher wichtig. Eine andere Sache ist es, Themen auf die Fakten zu reduzieren, die einem dienen, seine Meinung/Weltanschauung zu vermitteln. «Die erste Staatsrechnung von 1849 hatte 18 Seiten, die heutige umfasst 1206 Seiten.» 1849? Da wurde in New York gerade die Sicherheitsnadel patentiert. Das Leben ist heute wohl etwas komplizierter und die Staatsrechnung deshalb auch umfangreicher. Die Verwendung dieses Fakts soll natürlich darauf hinweisen, dass unsere Bürokratie aufgebläht ist. Die zu grosse Bürokratie in solcher Vereinfachung zu «belegen», ist eine Abkürzung, die in der Politik gerne genommen wird, einer universitären Institution jedoch nicht gut ansteht.
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