Im ersten Stock der Location Signature am Bahnhofquai sind die Fenster geöffnet. Der Raum ist ebenso bunt und gemustert ausgekleidet wie die rund 150 Menschen, die sich zu den diesjährigen ADC Creative Days versammelt haben. Ganz vorne: ein Screen, der das Tagungsmotto aufzeigt. «Orchestra of Wizards», ein Orchester der Zauberer.
Das Tagesprogramm stammt aus der Feder des Komponistentrios Baldenweg. Paradoxerweise, wie sie selbst betonen, soll die Musik heute allerdings nicht im Mittelpunkt stehen.
«Der Grund dafür, dass wir den ganzen Tag nicht mit Musikthemen gefüllt haben, ist, dass wir denken, dass es relevantere Themen für die Branche gibt. Wir spüren in unserem Umfeld eine gewisse Angst. Viele Agenturen schliessen, KI bereitet Unsicherheiten, und viele Werber arbeiten aufgrund von Kosteneinsparungen alleine. Ziel des Anlasses ist, dass Kunden, Kreative und Agenturen zusammenkommen, sich austauschen und gegenseitig inspirieren», so Lionel Baldenweg.
Wie Angst unsere Kreativität befeuert
Kann es Mut ohne Angst geben? Neuropsychologe und Fotograf Hennric Jokeit stellt diese fundamentale Frage in seiner Keynote und kommt zu einem überraschenden Schluss: Ohne Angst könnten wir gar nicht existieren. Von der ersten Trennungsangst als Neugeborenes bis hin zu paranoiden Zuständen – Angst ist nicht nur unser ständiger Begleiter, sondern auch Nährboden für Kreativität.
Die entscheidende Erkenntnis für kreative Werber liegt laut Jokeit in der neurologischen Reaktion: Bereits durch das blosse Betrachten angstverzerrter Gesichter «flippt die Amygdala aus, flutet den Hippocampus und belastet unser Nervensystem». Das bedeutet, dass visuelle Angstreize unmittelbar auf unser Befinden einwirken und damit ein mächtiges Werkzeug für kreative Kommunikation darstellen.
Jokeit demonstriert dies mit einem simplen Experiment: Aus einer Wortliste mit «Vortrag», «Rede», «Ansprache», «Bratwurst» und «Mord» bleiben zwei Begriffe besonders haften. «Bratwurst» – weil unser Gehirn auf Neuartiges anspringt. «Mord» – weil die Amygdala auf emotionale Reize reagiert.
Diese neurologische Tatsache nutzt die Werbebranche gezielt: Ungewöhnliche und emotionale Stimuli durchbrechen das alltägliche Rauschen und brennen sich ins Gedächtnis ein.
Das Vertrauensproblem
In einem Panel wird eine der drängendsten Fragen der Werbebranche diskutiert: Wie entsteht kreative Arbeit in Zeiten von Effizienzdenken und künstlicher Intelligenz? Thomas Wildberger, Präsident des ADC, Andrea Bison von der Kreativagentur Thjnk, Manuel Wenzel, CCO von TBWA\Zürich, Führungskräfte-Coach Heidi Hauer und Johan Jervøe, CMO von The Collection, suchen nach Antworten.
Die Ausgangslage ist komplex: «Der Kunde brieft, der Kunde beurteilt. Wenn zuletzt etwas nicht ankommt, ist die Agentur schuld», beschreibt Johan Jervøe das Dilemma. Seiner Ansicht nach ist gemeinsame Zusammenarbeit unabdingbar, denn die Sprache spielt eine zentrale Rolle. Selbst im Banking müsse eine warme, humorvolle, emotionale Geschichte erzählt werden – nicht nur technische Fakten, die niemand versteht.
Diese Herausforderung verstärkt sich durch die Fehlerkultur, wie Andrea Bison erklärt: «Intern betrachten wir die Agentur wie ein Biotop. Ich muss den Mut haben, die Angst vor Fehlern zu überwinden und kreativ zu sein.» Es brauche Freiheit, um Ideen hervorbringen zu können, doch die soziale Beurteilung durch Kunden und die Sichtbarkeit der Arbeit könne Furcht hervorrufen.
Manuel Wenzel sieht das Problem anders: «Natürlich braucht es ein bisschen Mut, eine Atmosphäre, die es erlaubt, sich zu öffnen über Ideen. Spass und das Spielerische ist allerdings viel wichtiger.» Man müsse sich trauen, «bescheuert zu sein» und auszuprobieren. Brecht habe dies doch bestens zusammengefasst: «Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz. Das gilt auch für Ideen.»
Intuition als Kreativitätsmotor
Führungskräfte-Coach Heidi Hauer betont die Bedeutung der Intuition: «Kreativität und Intuition sind Schwestern. Entspannung, Gedanken mal frei wandern zu lassen ist eine Grundvoraussetzung.» Nichts zu denken sei meist kein Leerlauf, sondern ein Flowzustand – die Möglichkeit, kreativ zu werden.
Die Diskussion um künstliche Intelligenz polarisiert. Johan Jervøe sieht es pragmatisch: «AI ist vielleicht kostengünstiger, aber nicht unbedingt besser. Die besten Kreativen werden überleben und weiterhin tolle Arbeit machen.»
Thomas Wildberger bleibt skeptisch: «Je mehr ich selbst generiere, desto besser wird sie. Es ist eine Art Training, eine Art Meisterschaft.» KI sei ein nützliches Tool für die Ideenumsetzung, doch er glaube an die Kraft des eigenen Hirns. Bei vielen Kampagnen habe er das Gefühl, nicht nur die Idee, sondern auch die Umsetzung sei KI-generiert und seelenlos.
Heidi Hauer entgegnet: «In der Vergangenheit ging es bei den Jobs um die Muskeln, heute um den Verstand, in der Zukunft um das Herz. Das Herz können wir alle mehr trainieren, denn das kann die Maschine noch nicht.»
Workshop «Schlag die Zeile!»
Andreas Dietrich, Chefredaktor Print des Blicks und ehemals bei NZZ Folio, Tagi und Tagi-Magi tätig, widmet sich in seinem Workshop der Kunst der Schlagzeilen-Gestaltung. «Warum hat die Schlagzeile keinen Punkt? Weil sie die Geschichte auf den Punkt bringt», lautet sein Credo.
Vier Elemente machen laut Dietrich einen guten Titel aus: Information und Inspiration bilden das Fundament, ergänzt durch Emotion und Interpretation.
Information bedeute schlichtweg zu sagen, was ist. Oder eben gerade nicht zu sagen was ist – das klassische Click-Bait, das Informationen besonders im Online-Journalismus bewusst verschleiere.
Bei der Inspiration müssten drei Punkte stimmen: «Der Titel stimmt, der Titel ist stimmig, und der Titel stimmt ein.» Besonders bei Boulevard-Titeln sei dies anspruchsvoll – wenig Platz für Worte, viel Verdichtung sei nötig. Daher komme wohl auch der schlechte Ruf.
Zwischen Genialität und Grenzüberschreitung
Laut Dietrich sei Humor in der Schlagzeile unabdingbar – «Omo Sapiens», «So ein Scheich» –, um nur einige Schlagzeilen aus dem Blick zu nennen. Nichtsdestotrotz warnt er aber auch vor den Fallstricken. «Nicht jede erste und originelle Idee ist dann wirklich auch gut.» Und auch bei Redewendungen sei Vorsicht geboten: «Nicht jede Redewendung bringt die Wende», so Dietrich.
Film- wie auch Musiktitel werden zudem oft abgewandelt. Entscheidend sei, ob die Leute die Referenz noch kennen, ob der Witz auch als Solcher erkannt wird.
Der Ehrenkodex der Schlagzeile
Trotz aller Kreativität gebe es einen Ehrenkodex, gewisse Grenzen, die nicht überschritten werden dürften. Als Beispiel nennt er Greta Thunbergs Schwester, die als Künstlerin einen Imagewandel durchmachte, aber oft öffentlicher Kritik ausgesetzt war. Seine Idee «Die Nacktivistin» verwarf er daher wieder – zu respektlos.
In den besten Headlines stecke laut Dietrich Köpfchen dahinter. Es gehe darum, bei der Leserschaft einen Gedankenprozess auszulösen. Dietrich erinnert sich daran, als eine Studie über Kindsmissbrauch in der katholischen Kirche bekannt wurde und die meisten Zeitungen ihre Schlagzeile auf harte Fakten basierten. Bei Blick waren die zehn Gebote auf der Frontpage.
Auf dem Tagesprogramm waren zudem Keynotes wie jene von Guido Heffels, Chief Creative von Hornbach, oder ein Interview mit Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer.
Der Tag klang schliesslich auf dem Dach des Gebäudes bei einem gemeinsamen Get-together von ADC und Swissfilm Association aus.