14.02.2017

Migros

«Dann hätten wir eine halbe Milliarde mehr in der Bundeskasse»

Herbert Bolliger tritt diesen Herbst als Migros-Chef zurück. Im Interview spricht der 63-jährige Aargauer über den Industriestandort Schweiz und lanciert einen spektakulären Vorschlag, wie man die Folgen des Einkaufstourismus bekämpfen könnte. Ausserdem erzählt er von seiner Begegnung mit Bruce Springsteen.
Migros: «Dann hätten wir eine halbe Milliarde mehr in der Bundeskasse»
«Wir haben festgestellt, dass viele Konsumenten von der Schweizer Ware und deren Qualität schwärmen. Sobald aber die importierten Pommes frites günstiger sind, kaufen sie diese.» (Bild: Marc Wetli)
von Matthias Ackeret

Herr Bolliger, Sie haben sich verschiedentlich pessimistisch zum Industriestandort Schweiz geäussert. Wofür gilt diese Haltung?

Nicht für alle Bereiche. Es muss uns einfach gelingen, qualitativ noch hochwertigere und innovativere Produkte herzustellen, damit sich die Mehrkosten rechtfertigen, die sich aufgrund des Wirtschaftsstandortes Schweiz ergeben. Bei einfachen Produkten besteht die Gefahr, dass man deren Herstellung ins Ausland verlagert.

Stellt die Migros viele Güter im Ausland her?
Relativ wenig. Die Frage, ob wir die Produk
tion ins Ausland verlagern wollen, stellt sich 
für uns bei der Erneuerung jeder Anlage.
 Ein konkretes Beispiel: Salatsaucen und Mayonnaise haben wir bis jetzt in Estavayer, bei
 unserem grossen Milchverarbeiter, hergestellt. Doch jetzt sind diese Anlagen technologisch veraltet. Sollen wir nun investieren
 oder nicht? Nachdem wir verschiedene Varianten geprüft haben, haben wir uns entschieden, im Elsass eine bereits bestehende Sau
cenfabrik zu kaufen. Da bei einer Salatsauce 
bereits neunzig Prozent der Zutaten aus dem
 Ausland stammen, glaube ich, dass wir den
 Entscheid, die Sauce künftig im Elsass zu produzieren, gut rechtfertigen können. Andere Produkte, die sehr stark an die Schweiz gebunden sind – Brot, Fleisch, Milch oder Schokolade –, werden wir selbstverständlich niemals auslagern. Da ist Swissness wichtig.

Aber erwartet der Kunde nicht ausgerechnet von der Migros, dass diese ihre Produkte in der Schweiz herstellt?

Der Kunde muss «made in Switzerland» auch honorieren. Ich glaube nicht, dass wir mehr Salatsaucen verkaufen würden, wenn ein Schweizerkreuz auf der Flasche prangen würde. Für uns stellt sich immer die Frage, wie wichtig es dem Kunden ist, dass das Produkt wirklich in der Schweiz hergestellt wird. Oft besteht ein grosser Unterschied zwischen dem, was der Kunde sagt, und dem, wie er sich verhält. Wir haben festgestellt, dass viele Konsumenten von der Schweizer Ware und deren Qualität schwärmen. Sobald aber die importierten Pommes frites günstiger sind, kaufen sie diese. Den Kunden interessiert auch nicht, ob auf unseren Agrarprodukten ein Schutzzoll ist oder nicht.

Hat sich in der Schweiz die Geiz-ist-geil-Mentalität durchgesetzt?

Ich glaube nicht, dass wir in der Schweiz eine Geiz-ist-geil-Mentalität wie in Deutschland haben. Aber unsere Kunden sind sehr preisbewusst. Das ist auch verständlich, denn bei vielen Leuten ist das Haushaltsbudget enger geworden. Trotzdem ist der Einkaufstourismus für die ganze Volkswirtschaft schädlich und wird möglicherweise langfristig Arbeitsplätze kosten.

Haben Sie sich nie überlegt, Migros-Filialen mit billigeren Sortimenten im benachbarten Ausland zu eröffnen?

Die Migros betrieb in der Vergangenheit ein paar eigene Läden im süddeutschen Raum und auch in Vorarlberg – dies im Hinblick auf den Europäischen Wirtschaftsraum. Hätte sich die Schweizer Bevölkerung 1992 für den EWR ausgesprochen, wären wir heute viel weiter. Da der EWR jedoch abgelehnt wurde, hatten wir ganz andere Rahmenbedingungen und mussten diese Filialen vor ein paar Jahren schliessen, weil sie unrentabel waren.

Stichwort Einkaufstourismus.
 Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diesen zu bekämpfen?
Das Problem ist folgendes: Die Einkaufstouristen bekommen für die aus dem Ausland eingeführten Waren die volle Mehrwertsteuer zurückerstattet. Und die Einfuhr eines Einkaufs bis zu 300 Franken pro Person ist von der Mehrwertsteuer ganz befreit. Aus Gründen der Steuergerechtigkeit finde ich, dass jeder Einkauf mehrwertsteuerpflichtig sein sollte. Ob die höhere Mehrwertsteuer im Ausland oder die tiefere hier in der Schweiz bezahlt wird, soll jeder Konsument selbst entscheiden können.

Hätte das nicht eine enorme Bürokratie
 zur Folge?

Mit den heutigen technischen Möglichkeiten 
gäbe es bestimmt eine pragmatische Lösung.
 Es ist doch ungerecht, dass diejenigen Kons
umenten, die in der Schweiz einkaufen,
 Mehrwertsteuer bezahlen müssen, und diejenigen, die nach Deutschland fahren, sie zurückerstattet bekommen. Mittlerweile macht
 der Einkaufstourismus etwa 10 Milliarden
 Franken aus. Das ergibt für die Schweiz einen Steuerausfall von mindestens 400 bis
 500 Millionen Franken – ein beträchtlicher
 Betrag. Zum Vergleich: In der Statistik des
 Bundes werden heute von den aus dem Ausland eingeführten Waren 32 Millionen an Mehrwertsteuereinnahmen ausgewiesen. Wenn sich also die Konsumenten, die im Ausland eingekauft haben, für den in der Schweiz tieferen Mehrwertsteuersatz entscheiden würden, hätten wir eine halbe Milliarde mehr Einnahmen in der Bundeskasse.

Haben Sie deswegen schon politisch Ihre Fühler ausgestreckt?

Die Oberzolldirektion glaubt, dass der administrative Aufwand zu gross wäre. Ich bin anderer Ansicht: Sobald ein politischer Wille besteht, gibt es auch eine praktikable Lösung im Hinblick auf die Umsetzung. Wenn ich Ueli Maurer wäre, würde ich den Finger mal darauf halten. Auf einen Schlag 400 oder sogar 500 Millionen Franken mehr in der Kasse zu haben, ist doch klüger, als einige Hunderttausend Franken bei den Zuschüssen für Kinderkrippen oder ein paar Zerquetschte beim Hilfsprojekt in Somalia zu streichen, um den Finanzhaushalt im Lot zu halten.

Sie sind jetzt noch wenige Monate im Amt. Gegenüber der «SonntagsZeitung» haben Sie erklärt, dass Sie noch Bruce Springsteen treffen wollen.
Ich habe ihn bereits getroffen.

Ach ja? Und wo?
In Lissabon, in einem Hotel. Aber er hat es nicht gemerkt (lacht). Wir standen zweimal am gleichen Frühstücksbuffet. Er war offenbar in den Ferien und ist da als Überraschungsgast am Rolling-Stones-Konzert aufgetreten.


Dieses Interview erschien auch in der aktuellen Ausgabe des «persönlich»-Magazins. «persönlich» ist seit letzter Woche auch am Kiosk erhältlich – zum ersten Mal in seiner 53-jährigen Geschichte.



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Kommentare

  • Giorgio Keller, 17.02.2017 18:20 Uhr
    Intelligenter wäre es vielleicht gewesen, den Euro bei 1,20 bleiben zu lassen.
Kommentarfunktion wurde geschlossen

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