Herr Leonhard, viele Ihrer Prognosen – etwa, dass alles in Richtung digital geht und dafür neue Geschäftsmodelle gefunden werden müssen – könnte auch ich ungefähr voraussagen. Warum sind Sie seriöser als Mike Shiva?
Vieles, was in fünf Jahren passieren wird, ist jetzt schon offensichtlich. Aber Personen, die irgendein Gewerbe betreiben, beschäftigen sich meist mit dem, was heute aktuell ist und in der Vergangenheit passierte. Sie schauen kaum über das nächste Kalenderjahr hinaus. Ein Beispiel: WhatsApp-Nutzer wissen, dass es keine SMS mehr braucht. Aber eine Telekomfirma, die jahrelang Millionen mit SMS verdient hat, schaut nicht so weit, dass sie WhatsApp als Substitut anerkennt. Mein Ansatz ist deshalb, das Offensichtliche noch klarer zu machen.
Und wie kommen Sie ganz konkret zu Ihren Prognosen?
Ich versuche Entwicklungen zu identifizieren, die ganz sicher eintreten werden. Das ist einerseits ein kreativer Prozess, hat aber auch mit Mustererkennung zu tun. Ich versuche, aus der riesigen Datenmenge Regelmässigkeiten, Wiederholungen, Ähnlichkeiten oder Gesetzmässigkeiten herauszufiltern. Eigentlich wie beim Kochen: Ich habe 500 Zutaten, muss aber nur sechs benutzen für mein Gericht. Diese herauszupicken ist ein Prozess, der auch für mich immer speziell und je nach Klient anders ist. Es ist die diese Art von Wertschöpfung, die ich anbiete.
Sie sind gelernter Jazzgitarrist: Wie kommt man vom Jazz zur Zukunft?
Es gibt natürlich Parallelen, etwa die Improvisation. Ich war lange als Musiker tätig. Als das Internet aufkam, habe ich erkannt, dass es unsere Zukunft verändern wird. Kurz darauf hat ein Bekannter in meine Internetfirma investiert und wir haben Musik für Film und TV vertrieben. Nachdem die Internetblase dann 2001 geplatzt ist, habe ich gemerkt, dass ich besser darin bin, Entwicklungen vorauszusehen als neue Technologien selber als Business zu lancieren.
Man hat Gefühl, dass die Kommunikationsbranche nicht Schritt halten kann mit der Technologie, die sich exponentiell entwickelt.
Kann sie auch nicht. Wir observieren die Entwicklungen lediglich und fragen uns, welche Auswirkungen sie haben könnten. Man muss auch nicht zwingend mithalten können, wichtiger ist das Experimentieren und Ausprobieren. Und dabei sollten wir unsere Ethik auf Vordermann bringen. Wir könnten theoretisch jede Person mit Face-Recognition erkennen, das wäre ein unglaublicher Vorteil fürs Marketing. Aber nur weil es geht, müssen wir es noch lange nicht tun, denn es hat unglaublich viele Nebenwirkungen. Diese Frage wird immer zentraler: Was sind die Nebenwirkungen von dem, was wir mit Technologie machen?
Durch Social Media haben wir völlig neue Möglichkeiten der Interaktion und Kollaboration mit Menschen. Wie kann man das im Marketing nutzen, um beispielsweise erfolgreiche Kundenbeziehungen aufzubauen?
Wichtig ist zuerst einmal etwas ganz Grundsätzliches, das aber fast nie stattfindet: Man muss zuhören. Man muss observieren und grundsätzlich bereit sein, das alte System in Frage zu stellen und parallel ein neues System zu bauen.
Warum ist man damit so zurückhaltend?
Solange das Geschäft gut läuft, verändert man sich oft nicht. Das ist aber ein immer grösseres Problem: Durch die technologische Entwicklung wird die Reaktionszeit dramatisch verkürzt. Früher gingen Einnahmen jährlich um wenige Prozentpunkte zurück. Heute sind es oft im ersten Jahr 10-20 Prozent, dann 40-50 und im dritten Jahr ist man tot. Sprich: Heute kann ich nicht mehr agieren, ohne vorauszuschauen.
Was wird in Zukunft die grösste Herausforderung im Bereich Marketing sein, speziell für die Schweiz?
Die Silos aufzuweichen und das Marketing der digitalen Welt anzupassen. Werbung besteht dann nicht mehr traditionell aus Pop-Ups oder Bannern, sondern soll Engagement erzeugen, also Inhalt werden. Nehmen wir Betty Bossi: Heute bekommt jeder überall Rezepte aller Art. Betty Bossi braucht es eigentlich nicht mehr so wie früher. Man muss deshalb einen Schritt weiter gehen: "Customer Delight" schaffen, das ist hier die Marketingmission. Speziell in der Schweiz ist es wichtig, wirklich Marken zu erzeugen, die etwas bedeuten. "Swissness" könnte man viel stärker nutzen im Marketing. Die Marke Schweiz hat einen guten Ruf und steht für Qualität und Loyalität.
Sie sagen, dass Werbung als Unterbrechung nicht mehr akzeptiert wird. Wie kann eine Werbekampagne in Zukunft erfolgreich sein und Aufmerksamkeit generieren?
Indem man etwas schafft, das magnetisch ist. Zuerst müssen wir aber loskommen vom Begriff "Kampagne", das klingt so militärisch. Werbung wird zu einer fortlaufenden Interaktion - ich sage immer "Interaction before transaction".
Und das bedeutet über kurz oder lang das Aus für klassische Werbung.
Es wird sie noch geben, aber viel weniger. Klassische Werbung ist sehr teuer und oft nicht sehr zielgenau. Wenn ich die Wahl habe zwischen einem Spot auf RTL Schweiz und Social Media, kann ich mit letzterem früher oder später viel direkter und günstiger Kunden erreichen. "Nobody ever got fired for running ads on television" – weil es früher einfach funktioniert hat. Aber diese Zeiten sind vorbei.
74 Prozent der Schweizer surfen über Mobile – ein Rekord (persoenlich.com berichtete). Mobile macht aber weniger als zwei Prozent des Gesamt-Werbevolumens aus.
Das ist ein grosser Fehler. Auch als Betty Bossi würde ich radikal auf Mobile setzen. Wie schaffe ich, dass ich zur unverzichtbaren Marke werde? Das ist die grosse Herausforderung. Natürlich ist es immer auch eine Frage von Risiko, ob man auf das setzt, was jetzt ist oder auf das, was in fünf Jahren sein wird.
Stichworte wie Targeting, Native Advertising oder Second Screen sind derzeit in aller Munde. In welcher Werbeform sehen Sie das grösste Potenzial?
Das Überlappen von Fernsehen und sozialer Interaktion ist gigantisch. Der Second Screen wird bald so normal sein wie heute das Kabelfernsehen. Damit gibt es eine Verknüpfung der beiden Medien. Das zweite Stichwort ist Native Storytelling: Man muss sich überlegen, wie Marken in den Inhalt eingebunden werden können. In der Schweiz sind die Gewohnheiten der Nutzer allerdings noch recht traditionell im Vergleich zu anderen Ländern. Es ist heute beispielsweise noch nicht so schlimm, wenn etwas ein bisschen mehr kostet. Das wird sich in den nächsten Jahren dramatisch ändern.
Schon heute bezahlen wir Inhalte immer öfter mit Daten statt mit Geld. Haben Sie als Zukunftsforscher geahnt, wie gross das Ausmass dieser Sammelwut und der Überwachung wird?
Dass die Masse der Daten enorm ist, war mir klar. Dass es aber technisch so schnell möglich sein wird, diese Daten zusammenzuführen und die totale Vernetzung zu erreichen, hätte ich nicht unbedingt gedacht. Wenn man fünf Jahre weiterdenkt, geht nichts von dem was wir uns vorstellen können, weit genug. Ob es geht, ist nicht mehr die Frage. Sondern, ob es benutzt werden sollte.
Andererseits werden wir immer kritischer was das Preisgeben von persönlichen Daten angeht. Vielleicht gehen wir wieder zu einer konservativeren Einstellung zurück und unser digitaler Fussabdruck wird letztlich kleiner.
Das glaube ich nicht. Der Konsument tut, was er für am einfachsten und sinnvollsten hält. Er wird seine E-Mail nicht verschlüsseln, denn das ist ein Know-how, das er gar nicht hat. Die meisten können gar nicht weniger von sich preisgeben – auch wenn sie es wollten. Wenn etwas praktisch erscheint, wird es genutzt. Es ist dann letztlich die Verantwortung der Industrie und des Staates, eine Überlappung zu finden, wo man sicher sein kann. Das sollte ein Konsument nicht alleine bzw. selber entscheiden müssen, weil es dafür unglaublich viel Wissen braucht. Es wird in Zukunft wahrscheinlich Möglichkeiten geben, den digitalen Fussabdruck zu reduzieren und sich Privatsphäre zu kaufen. Ich wäre zum Beispiel bereit, 50 Dollar für ein Facebook zu bezahlen, das meine Daten nicht ausnutzt. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Die Periode, in der wir fanden, dass alles immer nur umsonst sein muss, schliesst jetzt.
Dann wage ich eine Prognose: Ein paar Jahre lang wird die Fragmentierung noch grösser werden, wir erhalten immer mehr Informationen aus unterschiedlichsten Quellen. Aber bald wird eine Grenze erreicht sein: Ich bin froh, wenn ich wieder einen Filter habe, dem ich vertrauen kann. Zum Beispiel meine Zeitung. Der Verlagsbranche wird es, wenn sie das Bedürfnis der Leser richtig einschätzt und natürlich gute Inhalte bietet, in Zukunft wieder besser gehen.
Das kann sein. Es geht um Brands. Wer diese so verkörpert, dass sie Wert erzeugen, kriegt auch Geld dafür. Man zahlt dann nicht nur für Content, sondern für den Filter und andere ‘added values’. Trotzdem: Die traditionellen Kosten müssen weggesteckt werden. Die Werbung bricht ein und das wird Einbussen geben. Durch dieses "Tal der Tränen" müssen alle Zeitungsverlage, es gibt keine Alternative - aber auf der anderen Seite wartet ein gutes Business!
Wenn sich alles so entwickelt, wie sie sagen, werden Hunderte von Arbeitsplätzen wegrationalisiert. Müsste man schon heute anders ausbilden?
Ja. Es geht nicht mehr um Just-in-case, sondern um Just-in-time learning. Unsere ganze Ausbildung fokussiert darauf, dass wir Dinge speichern und später vielleicht einmal brauchen. Das einst gelernte ist heute aber oft nicht mehr relevant. Besonders bitter im Journalismus: Wenn man den Sprung von den Traditionen zu dem Gruppenfilter und Social Media nicht machen kann, ist das schmerzvoll. Im Journalismus werden Start-ups erfolgreich sein, die ihre Prioritäten anders setzen.
Dann haben Projekte wie Watson, das kürzlich startete, eine rosige Zukunft vor sich?
Absolut. Sie fangen von Null an, die sagen "hey Big Data, Artificial Intelligence, Social Media". Solche Start-ups können mit 50 Leuten ähnliches machen, was die New York Times bis jetzt gemacht hat. Es ist aufregend, weil sie bei Null anfangen und das Geld dort investieren, wo sie möchten. Die NY Times ist jedoch eine Institution. Sie kann nicht plötzlich aufhören, Zeitungen zu drucken und alles umkrempeln. Ich glaube, dass wir in der Schweiz diese Transformation schaffen können, weil das Publikum hier loyal ist. Ihm liegt viel daran, dass etwas nicht stirbt. In den USA ist es den Leuten oft völlig egal, wenn eine Traditionszeitung eingeht.
Sie sind Futurist, CEO, Autor, Key Note Speaker, Professor, Berater, Blogger – und seit Kurzem Schweizer Bürger. Welche Berufsbezeichnung schreiben Sie in Ihre Steuererklärung?
Wahrscheinlich Berater oder Autor. Ich finde das Wort Berater zwar nicht ganz korrekt, denn meine Funktion ist eher, etwas bei den Klienten auszulösen. Ich biete keine Standardwege an, da diese je nach Kontext variieren. Ich versuche den Prozess auszulösen, dass die Klienten ihre Zukunft selber entdecken. Sobald sie sich bewusst werden, was uns künftig erwartet, können sie selber den richtigen Weg finden.
Interview: Seraina Etter