14.05.2024

ESC

«Es war eine sehr herausfordernde Produktion»

Proteste wegen Israels Teilnahme oder der Ausschluss von Joost Klein: Der Eurovision Song Contest 2024 erhitzte die Gemüter. Bakel Walden, Chef des ESC-Aufsichtsgremiums, spricht über die turbulente Zielgerade vor den Shows, Fehler in der Organisation und Nemos Aktion mit der Nonbinary-Flagge.
ESC: «Es war eine sehr herausfordernde Produktion»
«Wir können nicht die Regeln anders interpretieren, wenn es schwierig wird»: Bakel Walden ist SRG-Geschäftsleitungsmitglied und Chairman der ESC Reference Group. Im Hintergrund interpretiert Nemo seinen Song «The Code» am ESC in Malmö. (Bilder: Keystone/SRF/zVg)

Bakel Walden, Sie sind gerade mit der Schweizer Delegation vom ESC in Malmö zurückgekehrt. Wie blicken Sie persönlich auf die Ereignisse der vergangenen Tage zurück?
Es war ein grosses Privileg, im Auftrag der Mitglieder der EBU diesen ESC als Chairman begleiten zu dürfen. Und noch habe ich, wie andere Kolleginnen und Kollegen auch, nicht alles in Ruhe verarbeiten können. Es ist in den letzten Tagen dicht getaktet unglaublich viel passiert. Es braucht jetzt etwas Zeit und noch etwas mehr Schlaf, um einen umfassenderen Blick zu bekommen.

Sie leiten als Vorsitzender der ESC Reference Group das Aufsichtsgremium des Gesangswettbewerbs. Welches Fazit ziehen Sie für den ESC 2024?
Viel wurde über den wohl schwierigsten ESC der Geschichte geschrieben und auch aus der Innensicht war es eine sehr herausfordernde Produktion. Die Teams des schwedischen Fernsehens und der EBU, die Stadt Malmö und alle Partner haben einen fantastischen Job gemacht. Die Sendungen waren allesamt beeindruckend. Bei anderen Punkten rund um den ESC, wie der öffentliche Druck auf die Kandidatinnen und Kandidaten oder der Einfluss der politischen Lage, werden wir kritisch hinschauen.

«Was dort junge Künstlerinnen und Künstler, aber auch Produktionsmitarbeitende, an Hass und Hetze ertragen müssen, ist erschreckend und absolut inakzeptabel»

Sie sagten es. Der ESC 2024 wurde von grossen Protesten gegen die Teilnahme Israels begleitet, in den Shows waren immer mal wieder Buhrufe zu hören. Inwiefern hat Sie das vor Ort beschäftigt?
Die Situation im Nahen Osten hat über Monate heftige Emotionen geweckt, auch beim ESC. In den Shows gab es für den israelischen Beitrag Applaus, aber auch negative Reaktionen. Uns bestürzt – auf vielerlei Ebenen – die gesunkene Hemmschwelle für verbalen Hass. Was dort junge Künstlerinnen und Künstler, aber auch Produktionsmitarbeitende, an Hass und Hetze ertragen müssen, ist erschreckend und absolut inakzeptabel. Da werden nicht nur die verbindenden Werte des ESC mit Füssen getreten, sondern auch die simpelsten Regeln von Respekt und Anstand. Hier müssen alle Gegensteuer geben, die es mit den Werten des ESC ernst meinen.

Auch der Ausschluss des niederländischen Kandidaten Joost Klein hat für viel Wirbel gesorgt. Wie kam es zu diesem Entscheid?
Während der Produktion wurde unangemessenes Verhalten gegenüber einer Produktionsmitarbeiterin gemeldet. Das zuständige SVT «Health and Safety»-Team hat den Vorfall intern untersucht ebenso wie die schwedische Polizei. Mit dem internen Bericht, der verschiedene Zeugenaussagen enthält, haben sich am Freitag verschiedene EBU-Gremien beschäftigt. Diese sind aus den Mitgliedsländern der EBU zusammengestellt. Die international zusammengestellte Reference Group als Aufsichtsgremium des ESC sowie das EBU-Executive Board haben den Entscheid, den niederländischen Kandidaten auszuschliessen, gemeinsam getragen. 

«Natürlich war dies ein Entscheid, den wir alle sehr gerne vermieden hätten»

Der Ausschluss wurde im Nachgang teils als übertrieben dargestellt. War der Entscheid eine Überreaktion?
Nein, die Regeln sind klar. Am Set des ESC herrscht eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Handlungen, die die Sicherheit und das Wohlergehen der Delegationen und der Mitarbeitenden gefährden. Der konkrete Fall wurde von den gewählten EBU-Mitgliedern bewertet und es wurde mit dem Ausschluss eine von allen zu akzeptierende Konsequenz umgesetzt. Natürlich war dies ein Entscheid, den wir alle sehr gerne vermieden hätten und der für weitere heftige Reaktionen in einer angespannten Lage gesorgt hat. Aber wenn wir glaubwürdig einen Wettbewerb gestalten wollen, der für positive Werte steht, können wir nicht die Regeln anders interpretieren, wenn es schwierig wird.

Auch die Schweiz sorgte für Schlagzeilen, weil Nemo bei der Eröffnung die Flagge für nonbinäre Menschen in die Show schmuggelte – obwohl die EBU dies nicht erlaubt. Stand hier nie eine mögliche Disqualifikation im Raum?
Neben den Flaggen der teilnehmenden Länder sind die Nonbinary-Flagge wie auch die Regenbogenfahne beim ESC zugelassen. Hier gab es offensichtlich vor Ort in Malmö nicht überall den gleichen Wissensstand und es wurden fälschlicherweise Flaggen entfernt. Das war ein Fehler, den wir sehr bedauern. Daher war das auch kein Regelverstoss von Nemo.

«Das war ein Fehler in der Organisation vor Ort»

Nemo selbst attestierte dem ESC an der Medienkonferenz in Malmö eine «Doppelmoral». Wie wichtig ist die queere Community für den ESC?
Sie ist ein sehr wichtiger Teil der ESC-Community und seit vielen Jahren vor und hinter den Kulissen präsent und spürbar. Bei der Kritik bezüglich der Doppelmoral geht es meines Wissens um die Flaggen-Thematik. Wie gesagt ein Fehler in der Organisation vor Ort. Grundsätzlich ist es notwendig, den ESC mit allen EBU-Mitgliedern und auch mit dem Input der Teilnehmenden weiterzuentwickeln. Das ist vereinbart und das werden wir in den nächsten Wochen angehen.

Spannend waren auch die Jurypunkte der verschiedenen Länder. Während viele Länder 12 Punkte an Nemo vergaben, bekam die Schweiz ausgerechnet von Kroatien – dem grössten Konkurrenten – null Punkte. Wie unabhängig sind diese Jurys?
Die Jurys sind unabhängig und frei in ihrer Einschätzung der Beiträge. Tolle Nachrichten für die Schweizer Delegation sind ja vor allem die 22 Jurys, die 12 Punkte vergeben haben. Die Mischung aus Jury und Publikum hat sich im Übrigen sehr bewährt, um Fairness und Qualität des ESC zu sichern. 

Nun findet der ESC 2025 in der Schweiz statt. Es buhlen bereits verschiedene Städte um die Durchführung. Bis wann wird entschieden, wer den Zuschlag erhält?
Der Prozess wurde nun eben erst gestartet und wird natürlich einige Zeit in Anspruch nehmen. Schwer zu sagen, bis wann wir einen Entscheid haben. In anderen Ländern hat das teilweise bis September gedauert. Wichtig ist auf jeden Fall ein fairer und gut strukturierter Prozess.

Inwiefern werden Sie als SRG-Geschäftsleitungsmitglied beim ESC 2025 involviert sein?
Als Teil der Geschäftsleitung werde ich die Umsetzung dieses Schweizer Highlights auf strategischer Ebene mitverantworten. Dabei kann ich in meiner Funktion als Chairman der Reference Group unter anderem die Perspektive der anderen Mitglieder der EBU frühzeitig miteinbringen. Das wird uns bei dieser grossen Herausforderung sicherlich helfen. Die operative Umsetzung liegt dann woanders innerhalb der SRG.

Sie werden dann also noch Chef der ESC Reference Group sein?
Ja, ich bin für zwei Jahre gewählt und freue mich auf meinen zweiten ESC. Der darf dann auf der Zielgeraden gerne etwas weniger turbulent werden.

Ist der ESC 2024 mit der Heimreise nach Zürich nun für Sie abgeschlossen? Oder was steht nun noch an?
Jetzt steht eine umfassende Analyse an. Was lief gut und soll auch 2025 fortgeführt werden? Wo werden wir beispielsweise bei der Planung und der Zusammenarbeit mit allen Delegationen Veränderungen erarbeiten? Der ESC in der Schweiz ist eine grosse Chance, nicht nur auf der Bühne, sondern auch dahinter notwendige Weiterentwicklungen gemeinsam anzustossen. Der ESC 2024 ist also weiterhin noch sehr präsent.


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