Raphaela Birrer, in den letzten Jahren haben sich viele Ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus dem Journalismus verabschiedet. Warum sind Sie geblieben?
Ich bin jetzt 28 Jahre im Journalismus. Mit 14 Jahren habe ich als freie Mitarbeiterin der Appenzeller Zeitung angefangen. Und seither hat sich nichts an meiner Leidenschaft für diesen Job verändert – trotz erschwerter Bedingungen.
Was auffällt: Seit Anfang Jahr schreiben Sie wieder mehr. Wieso?
Das ist wieder der Normalzustand. Im letzten Jahr hatte ich auf der strategischen Ebene sehr viel zu tun. Die ganze Führungscrew war absorbiert mit dem Transformationsprozess. Wir haben viele publizistische und organisatorische Veränderungen angestossen, so viele wie wohl noch nie bei Tamedia. Per Anfang Jahr sind wir mit der neuen Organisation gestartet.
«Jede Einheit kann sich auf ihre Kernkompetenzen fokussieren»
Wie sieht diese neue Organisation aus?
Neu ist unsere Redaktion in drei Einheiten aufgeteilt. Die Ressorts erstellen unsere Inhalte, also Geschichten und Podcasts. Der Digital Desk entscheidet, wann und auf welchem Kanal eine Geschichte ausgespielt wird. Der Print Desk produziert die Zeitungen. Diese Arbeitsteilung ermöglicht es, dass sich jede Einheit auf ihre Kernkompetenzen fokussieren kann. Gleichzeitig arbeiten wir über Standorte und Sprachgrenzen hinweg enger zusammen. Inhalte werden viel häufiger als früher geteilt und können so flexibler genutzt werden – etwa wenn eine Recherche aus der Romandie für ein gesamtschweizerisches Publikum relevant ist.
Wer hat am Ende das Sagen?
Grundsätzlich funktionieren alle drei Abteilungen unabhängig voneinander und haben eine eigene Leitungsstruktur. Wenn es einen heiklen Fall gibt, dann zähle ich darauf, dass wir zusammen im Dialog eine Lösung finden. Aber die rechtliche Verantwortung für alle unsere Kanäle trage ich als Chefredaktorin.
Die neue Struktur mit Ressorts, Digital Desk und Print Desk führt zu mehr Schnittstellen. Wird da am Schluss nicht mehr koordiniert als produziert?
Wenn man ein Organigramm umstellt und dabei kein Stein auf dem anderen bleibt, dann entstehen zu Beginn neue Reibungsflächen und der Absprachebedarf nimmt zu.
Was unternehmen Sie dagegen?
Wir haben uns im Vorfeld intensiv mit den Workflows befasst. Gemessen daran, wie viel wir umgestellt haben, läuft das neue System wirklich gut.
«Jeder Arbeitsschritt ist von dieser Transformation betroffen»
Aus der Redaktion hört man, dass die Leute für jeden Arbeitsschritt das Handbuch hervornehmen müssen, um zu schauen, was sie genau tun müssen.
Jeder Arbeitsschritt ist von dieser Transformation betroffen. Darum finde ich es verständlich, dass manche Kolleginnen und Kollegen noch nicht immer in jedem Moment die korrekte Vorgehensweise kennen. Ich gehe aber davon aus, dass sich das im Verlauf der nächsten Wochen verbessert und sich auch eine gewisse Gewohnheit einstellt.
Was läuft noch nicht so, wie Sie sich das vorgestellt haben?
Es ist noch nicht immer in jeder Situation klar, wer die richtige Ansprechperson ist. Man kann zwar ein Organigramm aufzeichnen und Rollen beschreiben, was das aber effektiv bedeutet, zeigt sich erst, wenn das System in Betrieb geht. Teilweise haben wir auch noch Diskussionen über Gewichtungsfragen, wie stark wir gewisse Inhalte auf unseren Kanälen positionieren. Das muss sich anhand von konkreten Beispielen entwickeln.
Was läuft besser als erwartet?
Im Grossen und Ganzen bin ich positiv überrascht, wie gut es läuft. Wir hatten gleich zum Start am ersten Tag der Systemumstellung einen Stresstest. Ich führte ein exklusives Interview mit Gerhard Pfister, in dem er seinen Rücktritt als Parteipräsident ankündigte. Das war streng geheim. Am 6. Januar um 13 Uhr fand die Pressekonferenz zum Rücktritt statt. Ich musste in der neuen Struktur dafür sorgen, dass nichts zu früh rausgeht und die Meldung wirklich erst Punkt 13 Uhr gepusht wird. Es hätte an so vielen Orten schieflaufen können, funktionierte aber reibungslos.
Sie haben dann noch ein zweites Interview mit Gerhard Pfister geführt. Was auffiel: Beide Male machten Sie das allein. Sonst ist beim Tages-Anzeiger oft mehr als eine Person dabei. Ist das eine Sparmassnahme, dass die Chefin die Interviews nun alleine führt?
Nein, nein, überhaupt nicht (lacht). Wir überlegen uns bei einem Interview immer, ob es eine zweite oder dritte Person braucht. Ich mache das häufig allein.
«Der Kreis der Beteiligten war am Anfang sehr klein»
Wie stark haben Sie die Neuorganisation mitgeprägt? Bisher traten ja vor allem Jessica Peppel-Schulz als CEO und Simon Bärtschi, der Leiter Publizistik, als Architekten der neuen Tamedia-Struktur auf.
Ich war ab Februar 2024 in den Prozess involviert. Ab Mai wurden in einer sehr hohen Kadenz die wichtigen Entscheidungen gefällt. Der Kreis der Beteiligten war am Anfang sehr klein. Ich habe die Perspektive der Publizistik, unseres Journalismus, und die Bedürfnisse und Funktionsweise einer Redaktion gut einbringen können. Das war wichtig, weil an einem Transformationsprozess Menschen mit unterschiedlichem Background mitwirken. Dass jemand von der Front mitspricht und einbringt, wie der journalistische Alltag läuft, ist zentral.
Die gedruckte Zeitung sorgt immer noch für einen Grossteil des Ertrags. Gleichzeitig wurde sie abgewertet mit immer früheren Druckterminen. Welchen Stellenwert hat Print noch?
Wir pflegen das Printprodukt mit der allergrössten Sorgfalt. Mit der neuen Organisation kümmert sich ein spezialisiertes Team um die Zeitung, das nur Print macht und die Bedürfnisse der Printleserschaft sehr gut kennt. Das sind ausgewiesene Produzentinnen und Produzenten mit langjähriger Erfahrung.
Das geschieht aber alles zentralisiert. Der Print Desk produziert alle Tamedia-Zeitungen von Berner Zeitung bis Tages-Anzeiger. Fehlt da nicht Sensibilität für das lokale Produkt, das ein lokales Publikum ansprechen soll?
Bei der Rekrutierung für den Print Desk haben wir darauf geachtet, dass sich das neue Personal in den Regionen auskennt und Sensibilität für die einzelnen Zeitungstitel hat. Ich nehme die Printproduktion als hochprofessionell wahr, sie arbeitet mit einer grossen Leidenschaft für die gedruckte Zeitung.
«Ich gehe offen und neugierig an meine Aufgabe heran»
Wenn nicht bald der nächste Abbau folgen soll, dann müssen Sie nun liefern. Haben Sie den Dreh raus, um die ewige Abwärtsspirale zu stoppen?
Ich gehe offen und neugierig an meine Aufgabe heran. Ich habe aber kein Patentrezept für den Erfolg. Wir machen das, was wir zum jetzigen Zeitpunkt als sinnvoll erachten und wo wir das Potenzial sehen, um vor allem im digitalen Raum zu wachsen. Dass wir uns bei Tamedia auf vier starke Marken fokussieren und uns nicht mehr in den kleineren regionalen Räumen verzetteln, halte ich für eine sinnvolle Strategie. Nur starke Marken haben im digitalen Raum Wachstumspotenzial.
Der Abbau bei Tamedia führte zu einem Imageschaden für das Unternehmen. Wie haben Sie das erlebt?
In der Zürcher Regionalpolitik hat es etwas gerumpelt, weil die Zürcher Regionaltitel digital in den Tages-Anzeiger integriert werden. Auch einen Stellenabbau in diesem Ausmass kann und soll man nicht schönreden. Daher ist es normal, dass es eine Weile lang nicht nur positive Schlagzeilen über uns gab. Das weiss ich ja auch aus der Perspektive als Journalistin. Wenn ich in der Öffentlichkeit bin, erkläre ich gerade viel: Wieso wir das machen, was sich verändert und inwiefern die Veränderungen eine Chance sind.
Welche Chance?
Wir haben Doppelspurigkeiten abgebaut, sowohl organisatorisch als auch inhaltlich. Dadurch haben wir auf einen Schlag viel mehr Power. Ich sehe das als Chance, dass wir in der Region Zürich führend werden in der Debatte. Im Moment organisieren wir Veranstaltungen, um die Gemeindepräsidenten aus dem Raum Zürich zu treffen und ihnen vorzustellen, was wir machen, wie sich der Markt verändert, was unsere publizistischen Ziele sind.
«Wir haben für die Regionalberichterstattung weiterhin genügend Leute»
Aber unter dem Strich bleibt es ein Abbau, gerade in den Regionen.
Das bestreite ich nicht. Aber wir haben für die Regionalberichterstattung, ob beim Tages-Anzeiger oder bei den anderen Tamedia-Titeln, weiterhin ausreichend Personal, um eine dichte, qualitativ hochwertige und vielseitige Berichterstattung über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu gewährleisten. In der Region Zürich entwickeln wir durch das engere Zusammenrücken der bisher getrennten Redaktionen eine grössere Schlagkraft. Und wichtig in diesem Zusammenhang: Wir ziehen uns nicht aus den Regionen zurück. Jeder Standort bleibt erhalten, also Wädenswil, Winterthur, Bülach und Zürich mit insgesamt über 50 Vollzeitstellen für den Regionaljournalismus. Unsere Journalistinnen und Journalisten recherchieren wie bisher vor Ort und stehen im Austausch mit allen relevanten Akteuren in diesen Regionen.
Als Folge des Transformationsprozesses werden auch die letzten noch getrennten Ressorts von Tages-Anzeiger und SonntagsZeitung zusammengelegt. Die beiden Titel entwickelten doch sehr unterschiedliche publizistische Profile in den letzten Jahren. Was bleibt davon?
Grundsätzlich möchten wir die Identität der SonntagsZeitung aufrechterhalten. Wir werden auch in Zukunft schauen, dass wir starke Debattenstoffe am Wochenende platzieren. Es sind ja die Autorentexte, die das Profil der SonntagsZeitung ausmachen. Auch digital ist der Sonntag ein guter Lesetag. Wir wollen sonntags weiterhin einen starken Auftritt auf allen Kanälen.
Und was macht das Profil des Tages-Anzeigers aus?
Wir haben uns intensiv damit befasst, was die Marke Tages-Anzeiger ausmacht, und die Essenz herausdestilliert . Wir sehen uns als Seismograf für politische und gesellschaftliche Debatten in der Schweiz, die wir erkennen, begleiten und prägen wollen. Wichtig ist auch der nationale Fokus.
«Ich möchte die Leserschaft auch überraschen»
Wo positionieren Sie den Tages-Anzeiger politisch?
Der Tagi vertritt keine politische Haltung, sondern pflegt eine journalistische Haltung der neugierigen, unvoreingenommenen Offenheit. Das ist für mich ein zentraler Wert. In einer direkten Demokratie finde ich es ausserordentlich wichtig, dass in der Öffentlichkeit unterschiedliche Perspektiven sichtbar sind. Ich möchte darum Phänomene, Entwicklungen, Trends, ob politischer oder gesellschaftlicher Natur, aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Die Leserschaft soll sich bei der Lektüre selber eine Meinung bilden. Wir wollen niemandem vorschreiben, wie er oder sie die Welt zu sehen hat. Gleichzeitig möchte ich die Leserschaft auch überraschen. Das heisst, auch mal Positionen und Sichtweisen aufzuzeigen, die bei uns vielleicht weniger erwartet werden. So möchte ich einen lebhaften Diskurs sicherstellen. Ich diskutiere selbst sehr gerne und das soll sich auch in unserer Publizistik widerspiegeln.
Sie diskutieren regelmässig im Podcast «Politbüro». An wen richten Sie sich da?
Wir erreichen mit dem «Politbüro» ein neues, jüngeres Publikum. Das Durchschnittsalter liegt viel tiefer als bei den Online-Usern, viele Hörer sind unter 30. Wir treten regelmässig live auf und nehmen den Podcast vor Publikum auf. Es ist erfreulich zu sehen, wer diese Veranstaltungen besucht. Ich werde auch von Studenten angesprochen, die im Politologie-Proseminar unseren Podcast besprechen. Das freut mich und es zeigt: Wir können mit Podcasts ein jüngeres Publikum gewinnen und an unsere Marke heranführen, die sie hoffentlich später auf anderen Kanälen nutzt.
Bisher standen die Zeichen auf Abbau. Wird es auch wieder mal neue Produkte aus dem Hause Tamedia geben? Zum Beispiel Podcasts, wenn die so gut laufen?
Im Moment bündeln wir unsere Ressourcen und stärken die bisherigen Angebote. Bei den Podcasts und Newslettern haben wir das Portfolio angepasst, weil wir jene Formate stärken wollen, die gut funktionieren. Wir möchten uns nicht verzetteln. In einem zweiten Schritt wird es auch wieder neue Produkte geben. Aber da ist noch nichts spruchreif.
«Wir haben beim Züritipp nichts abgebaut»
Eine Art Relaunch gab es beim Züritipp. Das Stadtkulturmagazin wurde als gedruckte Wochenbeilage eingestellt, wird aber digital weitergeführt. Was läuft da?
Sowohl die Marke Züritipp als auch die typische Berichterstattung bleiben erhalten. Online spielen wir diese Inhalte agiler und aktueller aus. Im Print sind sie in den Zürich-Bund integriert. Auch den Züritipp-Newsletter gibt es weiterhin. Wir haben hier nichts abgebaut. Nur die Printbeilage gibt es nicht mehr.
In den letzten Jahren habt ihr immer in der ersten Ausgabe des gedruckten Tages-Anzeigers im neuen Jahr alle Köpfe der Redaktion gezeigt, in diesem Jahr nicht. Wieso?
Ich kann mir vorstellen, dass viele Leute darauf gewartet haben. Eine solche Doppelseite mit allen Köpfen zu erstellen, ist sehr aufwendig. Da werden mehrere Arbeitstage investiert. Kurz vor der Umsetzung der Neuorganisation war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Wir werden aber im Frühling die Gelegenheit nutzen, um die Redaktion näher vorzustellen.
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05.02.2025 08:47 Uhr
04.02.2025 22:29 Uhr