Herr Stoll, spulen wir 30 Jahre zurück. Welche Geschichte hat Sie zum investigativen Journalismus gebracht?
Ich habe bei einer Regionalzeitung im Kanton Aargau gearbeitet, als ich auf meine erste Geschichte gestossen bin. Es ging um Sondermüll, die der Gemeindeschreiber gegen grosses Geld vergraben liess. Ich habe damals gemerkt, welches Potenzial der investigative Journalismus hat und dass man, wenn man sich Hintergründe erarbeitet, einen gewissen Impact erzielen kann.
Mit der Recherche zum Fall Nef haben Sie ein politisches Beben ausgelöst. Der damalige Armeechef Roland Nef musste zurücktreten, als Ihre Recherchen publik wurden. War das ein befriedigender Impact?
Es ist durchaus befriedigend, wenn es gelingt, mit viel Zeit- und Energieaufwand einen Missstand aufzudecken. Das ist uns in diesem Fall auch gelungen. Unsere Recherchen führten zu einer öffentlichen Debatte. Das war für mich immer auch der Antrieb meiner journalistischen Arbeit.
Welche Eigenschaften muss man haben, um investigativer Journalist zu werden?
So banal es tönt, man muss sehr neugierig sein. Das ist die Grundvoraussetzung. Es braucht auch viel Hartnäckigkeit und Kreativität. Man stösst immer wieder auf Hürden, die man auf kreative Art überwinden muss. Oft braucht es mehrere Anläufe, um eine Geschichte ins Rollen zu bringen. Die Neugier hilft dabei, geduldig zu bleiben und die Recherche nicht vorzeitig abzubrechen.
«Oft beginnt eine Recherche intuitiv»
Wie oft sind Ihre Geschichten ins Leere gelaufen?
Das kam immer wieder vor. Das gehört zum investigativen Journalismus. Ich denke aber, je mehr Erfahrung man hat, desto seltener ist das der Fall. Oft merkt man schon früh, wenn sich eine These nicht erhärten lässt. Häufig beginnt eine Recherche intuitiv: Man merkt, hier muss mehr dahinterstecken. Manchmal muss man ein Thema reifen lassen. Nicht immer lässt sich eine Geschichte sofort realisieren. Ich habe Geschichten auch über Jahre immer im Hinterkopf behalten. Und irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, wo ich gemerkt habe, jetzt bricht das Eis, jetzt kann ich in die Tiefe vordringen.
Haben Sie eine Recherche auch einmal abgebrochen, weil Sie Angst hatten?
Nein, ich hatte nie Angst. In der Schweiz leben investigative Journalisten unter privilegierten Umständen und müssen in ihrem Alltag nicht um ihr Leben fürchten. Klar muss man vorsichtig sein, wenn man zum Beispiel im kriminellen Milieu recherchiert. Aber diese Risiken sind überschaubar.
Wurde Ihnen jemals gedroht?
Gedroht wurde mir nicht. Beleidigungen und Beschimpfungen gab es aber natürlich schon.
Das nehmen Sie einfach so hin.
Holt man Fakten an die Oberfläche, die andere lieber versteckt halten möchten, muss man damit rechnen, zur Zielscheibe verbaler Attacken zu werden.
Das geht kaum spurlos an einem vorbei. Was hat es mit Ihnen gemacht?
Ich wollte nie von den Subjekten meiner Recherche Lob kassieren. Das Wichtigste war für mich, dass ich mit ihnen fair umgehe. Der Vorwurf der Unfairness hätte mich am meisten getroffen. Aber klar, wenn ich jemanden durch meine Recherchen in Schwierigkeiten gebracht habe – obwohl berechtigterweise, weil ein Missstand vorlag – musste ich mit Feindschaften rechnen. Ich glaube aber nicht, dass das grosse Spuren bei mir hinterlassen hat. Die Beschuldigungen und Beleidigungen steckt man einfach weg.
«Der Vorwurf der Unfairness hätte mich am meisten getroffen»
Wie hat sich der investigative Journalismus über die letzten 30 Jahre verändert? Was ist heute anders als früher?
Heute haben wir einen viel grösseren Werkzeugkasten. Früher waren es die Informantinnen und Informanten und die Whistleblower, die ein Thema angestossen haben. Dank der technologischen Entwicklung haben wir heute neue Instrumente wie Satellitenbilder, Messnetze, Webcams und grosse Datensätze.
Macht die technologische Entwicklung Recherchen zwingend einfacher?
Der Umgang mit den technologischen Möglichkeiten erfordert Spezialwissen. Eine Herausforderung sind auch die unzähligen Falschmeldungen im Internet. Ich würde aber trotzdem sagen, dass die Recherche heute viel einfacher ist. Wir können heute Geschichten machen, die früher ohne diese Instrumente nicht möglich gewesen wären. Es gibt viele Geschichten, welche die Welt nie erfahren hat, weil sie nicht aufgedeckt wurden, nicht aufgedeckt werden konnten. Heute überlegen sich die Mächtigen vielleicht mehr als früher, was sie tun, weil es eine wachsame und mit vielen Instrumenten ausgerüstete Medienszene gibt, die ihnen auf die Finger schaut.
Vor unserem Gespräch habe ich Sie um Ihre Erlaubnis gefragt, das Gespräch aufzuzeichnen. Hätte ich es nicht gemacht, würde ich mich strafbar machen. Was bedeutet es aber für investigative Journalistinnen und Journalisten, dass sie Gespräche nicht heimlich aufnehmen dürfen? Braucht es eine Ausnahmeregelung?
Bei Undercover-Recherchen könnten Aufzeichnungen hilfreich, sie könnten Belege für Erlebtes sein. Aber mit kreativen Lösungen kann man das umgehen, indem man zum Beispiel über WhatsApp eine Kommunikation initiiert. Eine Anpassung des Paragrafen würde aus meiner Sicht zu weit gehen. Die heimliche Aufzeichnung von Gesprächen ist heute Strafverfolgungsbehörden vorbehalten. Das ist gut so.
Neue Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung hat das Öffentlichkeitsprinzip eröffnet, das 2006 in Kraft getreten ist. Wie oft hat es Ihnen persönlich bei der Recherche geholfen?
Es hat mir sehr oft weitergeholfen, weil ich es kultiviert habe. Ich habe es über die Jahre konsequent genutzt und Dokumente eingefordert.
Und wie oft mussten Sie auf das Öffentlichkeitsgesetz verweisen, damit eine Verwaltungsstelle ein Dokument herausgibt?
Verwaltungsdokumente müssen in der Regel aktiv eingefordert werden. Wurde mir der Zugang dazu verweigert, bin ich oft auch in die Schlichtung gegangen. Mehrmals ging es bis vor das Bundesgericht, wo ich auch recht bekommen habe.
Wie hat die Verwaltung sonst die Informationsbeschaffung behindert?
Die Verwaltung war immer wieder auch sehr darum bemüht, Informantinnen und Informanten aus den eigenen Reihen aufzudecken. Ich habe erlebt, dass Telefonnummern von mir und meinen Kolleginnen und Kollegen gescannt wurden, weil man herausfinden wollte, welche Verwaltungsangestellten mit uns Kontakt hatten.
Einfacher dürfte es heute nicht geworden sein, an Verwaltungsangestellte heranzukommen.
Das ist so. Die Verwaltung hat in den letzten Jahren einen grossen Kommunikationsapparat aufgebaut. Heute landet man zuerst einmal bei der Kommunikationsabteilung. Mit einem Fachspezialisten einer Verwaltungsstelle ein Hintergrundgespräch direkt zu führen, ist heute oft nicht möglich.
Worauf führen Sie das zurück?
Das hat begonnen, als viele lokale Radiostationen aus dem Boden geschossen sind. Auf einmal hat die Verwaltung viele Anfragen von Journalistinnen und Journalisten erhalten, die rasch eine Stellungnahme wollten. Ab dem Zeitpunkt hat die Verwaltung angefangen, ihr Kommunikationssystem zu überarbeiten und Informationen zu kanalisieren.
Der Zugang zu öffentlichen Informationen scheint Ihnen persönlich ein Anliegen zu sein. Nach 32 Jahren bei Tamedia wollen Sie sich stärker für den Verein Öffentlichkeitsgesetz.ch engagieren. Was planen Sie konkret?
Wir wollen mit unseren Initiativen verstärkt auf die Entwicklung lokaler und regionaler Transparenzgesetze hinwirken. In der Vergangenheit haben wir Medienschaffende dazu animiert, Zugangsgesuche zu stellen und damit vor allem die Bundesverwaltung dazu animiert, ihre Gesetze gut umzusetzen. Dasselbe möchten wir jetzt in den Kantonen machen. Wir werden mit Journalistinnen und Journalisten arbeiten und sie darüber aufzuklären, was ihre Rechte sind. Und wir werden auch mit Verwaltungen arbeiten, damit das Öffentlichkeitsgesetz in den Regionen und den Kantonen gut umgesetzt wird. Dazu planen wir unter anderem Workshop-Reihen, in denen auch Verwaltungsstellen ihren Platz haben.
«Es gibt viele Geschichten, welche die Welt nie erfahren hat»
Welche Recherche in der Schweiz aus den letzten Jahren hat Sie beeindruckt?
Hervorragend recherchiert waren die Magglingen-Protokolle, die Geschichte über krasse Grenzüberschreitungen in der Ausbildung von Kunstturnerinnen oder die Recherche der Schaffhauser AZ zu Missständen in einem Pflegeheim. Wichtig finde ich Themen, die sich mit den Lebenswelten des Publikums auseinandersetzen. Dazu gehört auch Gesundheitswesen oder die Nahrungsmittelproduktion. Auch Missstände in der Finanz- und Bankenwelt und Offshore-Welt sind gesellschaftlich relevant. Letzterer Bereich hat den Wirtschaftsjournalismus in der Schweiz durch die grenzüberschreitende Medienzusammenarbeit massiv weiterentwickelt. Früher waren tiefgründige Recherchen im Wirtschaftsbereich eher die Ausnahme. Das hat sich in den letzten Jahren stark verändert.
Blicken wir in die Zukunft. Wo steht der investigative Journalismus in zehn Jahren?
Es gibt ein grosses Potenzial, das noch nicht ausgeschöpft ist. Investigative Recherchen werden immer wichtiger. Es ist für junge Journalistinnen und Journalisten zunehmend erstrebenswert geworden, investigativ zu arbeiten. In der Schweiz haben wir viele junge Talente, die mit guten Geschichten Erfolg haben. Investigativer Journalismus ist heute im Trend. Wir sehen heute, dass Medienhäuser eigene Investigativ-Teams aufbauen. Sie haben gemerkt, dass der investigative Journalismus einen grossen Wert hat.
Das bedeutet auch mehr Wettbewerb.
Klar. Aber mehr als zwischen den Verlagshäusern sehe ich den Wettbewerb mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit den NGOs zusammenarbeiten können und wo wir uns abgrenzen.
Martin Stoll arbeitet seit 1985 als Journalist, zuerst bei der Wochenzeitung Aargauer Kurier, danach 32 Jahre für verschiedene Tamedia-Titel. Er ist Initiant und inzwischen hauptberuflich Geschäftsführer der Transparenzplattform Öffentlichkeitsgesetz.ch. Daneben engagiert er sich als Vorstandsmitglied des Schweizer Recherchenetzwerks investigativ.ch und bildet als Recherchetrainer Medienschaffende aus. Mit verschiedenen Recherchen hat er parlamentarische Untersuchungen angestossen. So deckte er eine geheime Connection des Schweizer Geheimdienstes zum damaligen Apartheidstaat Südafrika auf und machte ebenfalls im Geheimdienst ein folgenreiches Datenleck bekannt. Er war an Recherchen beteiligt, die den Rücktritt des ehemaligen Armeechefs Roland Nef und des Schweizer Botschafters in den USA, Carlo Jagmetti, zur Folge hatten. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er wiederholt ausgezeichnet, unter anderem mit dem Zürcher Journalistenpreis. Für seine Aktivitäten zur Entwicklung der Verwaltungstransparenz in der Schweiz ehrte ihn das Branchenmagazin «Schweizer Journalist» 2019 mit einem Sonderpreis.
KOMMENTARE
25.05.2022 08:08 Uhr