05.11.2020

US-Wahlen

«Keine gute Nacht für Amerika»

Der Kampf um die US-Präsidentschaft hat sich zu einem regelrechten Wahlkrimi entwickelt. Wie haben USA-Kenner die Wahlnacht erlebt – und was ist ihnen besonders aufgefallen? persoenlich.com hat bei Exponenten aus der Medienbranche nachgefragt.
von Matthias Ackeret

Profilbild NMeier

Nicole Meier

Chefredaktorin Keystone-SDA

«Schlafen oder nicht? Natürlich interessieren mich die Wahlen brennend. Doch um 7 Uhr beginnt meine Frühschicht im Newsroom. Letztlich hält mich etwas anderes wach als Biden und Trump: Ich bin auf Pikett der Chefredaktion und müsste die Kunden informieren, falls das System von Keystone-SDA ausfiele. Das Piketthandy liegt neben dem Bett. Von hier aus überprüfe ich, ob rund um den Globus alles läuft. Sydney: Unser Nachtdienst arbeitet Down Under. Berlin: Die DPA macht unsere Wahlberichterstattung. Wien: Die IT der APA stellt sicher, dass das System läuft. Und Bern: Eine Kollegin im Homeoffice füttert den Live-Blog. Alles funktioniert. Auch das Piketthandy bleibt stumm. Als der Wecker klingelt, ist das Rennen noch offen. Anders vor vier Jahren: Kurz vor der Wahlnacht waren wir von Miami, Florida, nach Kuba geflogen. Damals blieb ich die ganze Nacht ‹sleepless in Havanna›. Wortwörtlich.»



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Arthur Rutishauser

Chefredaktor Tamedia / SonntagsZeitung

«Es war ja etwas langweilig, weils ewig ging, bis Resultate kamen und es keinen Sieger gab. Aber was mir gefiel: Auf CNN, John King, der Mann mit der Silberlocke vor der Magic Wall, der unermüdlich Bezirke auswertet, auch wenn es nix Neues zu sagen gibt.»



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Felix A. Müller

Publizist und ehemaliger Chefredaktor der NZZ am Sonntag

«Ich habe die Wahlnacht im Ringier-Medienhaus verfolgt, wo ich für Blick TV die Auszählung der Stimmen kommentierte. Aufgefallen ist mir, dass sich die Demokraten erneut überschätzt haben und Trump besser abschnitt als von diesen erwartet. Die ersten Verlierer des Abends waren die Meinungsforscher, die erneut das Stimmenpotenzial von Trump falsch berechnet haben. Rasch zeigte sich, dass Biden nicht der wirklich bessere Kandidat als Hillary Clinton ist, was diese vielleicht einen Moment lang gefreut hat. Und jetzt kommt es zum Worst-Case-Szenario: kein klarer Gewinner, juristische Streitereien. Keine gute Nacht für Amerika.»



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Jonas Projer

Chefredaktor Blick TV

«Es war eine grossartige Nacht! Denn das Team Blick TV hat der ganzen Schweiz gezeigt, was es kann: Mit einer kleinen Truppe, moderner Technik und sehr viel Leidenschaft haben wir die ganze Nacht durchgesendet. Hand in Hand mit den Kolleginnen von Ausland, Digital und dem ganzen Newsroom. Und es war eine frustrierende Nacht, weil genau das befürchtete unklare Ergebnis eintraf. Klärt sich das Bild nun nicht rasch, drohen Prozesse, Unruhen von links oder rechts, politisches Chaos – ein Worst Case für die amerikanische Demokratie. Aber eines ist jetzt schon klar: Ohne Pandemie hätten die Amerikaner ihren umstrittenen Präsidenten glanzvoll, ja triumphal wiedergewählt. Das ist für alle, die sich mehr Anstand und Redlichkeit in der Politik wünschten, eine ernüchternde Erkenntnis.»



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Patrik Müller

Chefredaktor Zentralredaktion CH Media und Schweiz am Wochenende

«Ich habe die Wahlnacht bei TeleZüri erlebt, wo wir im Team die Sondersendung vorbereitet haben, die dann um 6 Uhr live über den Sender und die CH Media-Newsportale ging. Erich Gysling analysierte laufend die hereinkommenden Resultate, auch James Foley (Republikaner in der Schweiz) und Miriam Spiegel (Demokratin) waren zu Gast. Jeder hat gespürt: Wir erleben gerade die wahrscheinlich verrückteste Wahl unseres journalistischen Lebens. Und irgendwann merkten wir dann auch: Es wird noch Tage dauern, bis alles klar ist.»



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Roger Köppel

Chefredaktor und Verleger Weltwoche

«Es war, ist eine Sternstunde der Demokratie, superspannend, überraschend, unberechenbar wie der Mensch, von den Medien und Meinungsforschern wieder kolossal falsch vorausgesagt. Das ist Demokratie. Amerika streitet leidenschaftlich über die politische Zukunft. Trump erklärte sich voreilig zum Sieger, vielleicht deshalb, weil er nicht an den Sieg glaubt – oder dem Sieg vor Gericht mehr Chancen gibt. Trump will gewinnen. Er hasst, verachtet Verlierer. Deshalb darf er nicht verlieren. Mit seinem Betrugsvorwurf hat er sich eine Ausrede gebastelt. Wenn beschissen wird, ist man nicht selber schuld. Es wäre schade, wenn er abtreten müsste. Für die Schweiz ist Trump der bessere Präsident.»



Stefan Barmettler

Stefan Barmettler

Chefredaktor der Handelszeitung

«Ich habe die Wahlnacht im Bett erlebt, denn nichts ist öder als eine Wahlnacht. Über Stunden tröpfeln Hochrechnungen aus Counties und Bundesstaaten ein, doch das Endergebnis lässt auf sich warten. In ihrer Verzweiflung zerren TV-Stationen Presidential Historians, Deli-Betreiber, Pollsterer, Soccer Women und Castro-Hasser vor die Mikrofone, die in Endlosschlaufen ihre längst bekannte Einschätzung abgeben. Die Wahl 2000 – Al Gore gegen George W. Bush –, die ich in den USA erlebte, hat mich gelehrt. Es kann ziemlich lange dauern. Damals waren es nicht Tage, sondern Wochen, bis ein (umstrittenes) Endergebnis schliesslich vorlag. Gore holte zwar die Wahlstimmen, aber Bush die Elektoren. Zu verdanken hatte er den Sieg übrigens dem Grünen Ralph Nader.»



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Markus Somm

Autor SonntagsZeitung, ehemaliger Chefredaktor der Basler Zeitung

«Ich habe die Wahlnacht mit Roger Schawinski bei Blick TV verbracht, acht Stunden haben wir gestritten, gebangt, gelacht, gelitten und uns gefreut, fast immer aus unterschiedlichen Gründen, und doch war es meine bisher beste amerikanische Wahlnacht. Selten war ich so unsicher in eine Wahlauszählung gegangen, selten so viel Adrenalin verdampft: Und doch waren wir beide auch um 7 Uhr 30 noch so hellwach, als ob es keinen Schlaf mehr gäbe. Ist es Trump, ist es Biden? Vielleicht wird es noch viele ‹Roger gegen Markus› brauchen, bis wir das wissen. Dass die Amerikaner, die seinerzeit eine so grandiose Demokratie geschaffen haben, immer noch nicht in der Lage sind, Stimmen korrekt und innert nützlicher Frist zu zählen, ist eine Schande. Immerhin in diesem Punkt sind Roger und ich uns einig. Soviel ich weiss, kam die Sendung gut an. Ein Beweis dafür, wie wichtig es ist, dass man sich streiten kann – ohne sich auf die Nerven zu gehen. Wir müssen Differenzen feiern, nicht die Harmoniesucht.»



Lesen Sie auch, wie am Mittwochmorgen Schweizer Medien die Wahlnacht in ersten Einschätzungen kommentierten. Und hier finden Sie den Kommentar von Matthias Ackeret, Verleger und Chefredaktor von persönlich und persoenlich.com.



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