16.03.2004

"Marco Boselli, wie stark werden Sie von der Tamedia an die Leine gelegt?"

Marco Boselli (Bild) hat Ende November überraschend die Chefredaktion von 20 Minuten übernommen. Rund 100 Tage nach Amtsantritt wollte "persoenlich.com" von ihm wissen, wie er sich der drohenden Tabloid-Konkurrenz erwehren will, inwieweit er den Tages-Anzeiger zu schützen hat und woher er weiss, dass seine "Gratispostille" ernst genommen wird. Das Interview:
"Marco Boselli, wie stark werden Sie von der Tamedia an die Leine gelegt?"

Tabloid wird sexy: Blick und Basler Zeitung denken zur Zeit über das neue Format nach, die Mittelland Zeitung stellt ihren Regionalteil demnächst um. Was bedeutet das für 20 Minuten?

Das zeigt vor allem einmal mehr, dass 20 Minuten frischen Wind in die Schweizer Medienlandschaft gebracht und verkrustete Strukturen aufgebrochen hat. Wobei das Format allein nicht den Erfolg ausmacht, auch wenn es damals beim Launch sicher ein Killerkriterium war. So weiss ich von Verlagen, die 20 Minuten zwar gegen ausssen hin als Gratispostille abtun, intern aber als Vorbild nehmen, wie Geschichten zu schreiben, Titel zu setzen, Bilder auszuwählen sind. Aber eben: Das Format alleine macht noch nicht den Erfolg -- das hat Metropol ja gezeigt...

Droht nicht die Gefahr, dass sich die Tageszeitungen nach dem Boulevard nun auch den "20 Minuten-Groove" unter den Nagel reissen und eine weitere Nivellierung erfolgt?

Das wäre jedenfalls kein Grund, uns von unserem Konzept zu verabschieden. Neben dem Format sprechen für 20 Minuten der Themenmix, die Distribution, und die Tatsache, dass wir gratis sind. Alles Punkte, wo uns kaum wer das Wasser abgraben wird. Abgesehen davon entwickelt sich 20 Minuten ja auch konstant weiter.

Sie haben Ihren Vorgänger Markus Eisenhut sehr abrupt ersetzt, was in der Redaktion bekanntlich für grosse Unruhe gesorgt hat. Wie haben Sie die damalige Zeit erlebt?

Ich lebe stark in der Aktualität und das nicht nur als Journalist, weshalb ich diese Vorgänge nicht mehr kommentieren möchte. Natürlich war mein Start unter diesen Bedingungen sehr schwierig, wie hätte es auch anders sein können. Die Redaktion wusste nicht, was die Tamedia mit 20 Minuten vorhatte, die Verunsicherung war gross. Mein Aufgabe war und ist es, vorzuleben, dass das Haus an 20 Minuten glaubt, und ich meine, dass mir das in den letzten Monaten ganz gut gelungen ist.

Wie beurteilen Sie Ihren Rückhalt in der Redaktion heute?

Als absolut gut. Was man im übrigen auch am Produkt sieht: 20 Minuten bringt laufend Primeure, von uns lancierte Themen geben immer wieder und viel zu reden, in der Unterhaltung haben wir heute ganz klar die Themen-Führerschaft, und auch die Veranstaltungsbeilage week hat sich sehr gut etabliert.

Bei Ihrem Start wurde kolportiert, der Auslandteil von 20 Minuten werde stark reduziert, der People-Teil gestrichen. Stattdessen würden Sport- und Regionalteil verstärkt. Was wurde umgesetzt?

Der Cash-Artikel von damals war absoluter "Gugus", sollte wohl unsere Leser und Werbeauftraggeber verunsichern. Ich bin unter der Prämisse als Chefredaktor eingestellt worden, ein bereits sehr erfolgreiches Blatt zu führen, und nicht alles über den Haufen zu werfen. Natürlich werden wir mittelfristig weitere Gefässe einführen, neue Themenschwerpunkte setzen. Das gebietet schon unsere extrem junge Leserschaft, deren Interessen sich laufend ändern. Deswegen brauche ich aber nicht ein erfolgreiches Konzept völlig aus den Angeln zu heben.

Haben Sie die Redaktion aufgestockt?

Nein, wir sind schlank und rank wie immer. Und ich sehe auch mit Blick auf die Pläne der Konkurrenz keinen Grund, daran etwas zu ändern. Die sollen erst einmal ihr Neukonzept umsetzen respektive beweisen, dass ihre Leser überhaupt mitspielen. Wenn es sein müsste, könnten wir in kürzester Zeit reagieren. Prophylaktisch ist das aber kein Thema.

Das Image von 20 Minuten hat sich vom Gratisblättchen hin zur ernstzunehmenden Konkurrenz für die Tageszeitungen geändert. Bewerben sich jetzt auch gestandene Journalisten bei 20 Minuten?

Als ich sah, dass uns der Blick im Zusammenhang mit der "MusicStar"-Berichterstattung als "Gratispostille" tituliert hat, wusste ich, dass wir es geschafft haben (lacht). Wenn ich Cracks an Bord holen wollte, dann wäre das wohl kein Problem. Aber die brauchen wir gar nicht, weil hier schon sehr gute Journalisten arbeiten. 20 Minuten hat extrem viele Leser, wird laufend von den Lokalradios, -tvs und anderen Zeitungen zitiert, bewegt -- es macht wirklich Spass, bei einem solchen Blatt mitzuarbeiten, und das soll jetzt kein PR-Gewäsch sein.

20 Minuten konkurrenziert unter anderem auch den hauseigenen Titel Tages-Anzeiger, dem es bekanntlich schlecht geht. Wie stark werden Sie an die Leine gelegt?

Überhaupt nicht. Mein Auftrag lautet, eine erfolgreiche Zeitung zu machen und sonst nichts. Es soll mich der Blitz treffen, wenn ich jemals von der Tamedia-Geschäftsleitung den Auftrag erhalten hätte, den Tages-Anzeiger zu schützen. Der Tagi und 20 Minuten sind im übrigen zwei sehr verschiedene Blätter -- dort die Forumszeitung, hier das Informationsblatt.

Es fällt auf, dass bei 20 Minuten der Inserateanteil stark zugelegt hat. Wann kommt das Tagi-/20 Minuten-Kombi?

Es liegt nicht in meiner Kompetenz zu entscheiden, wie fest das Sinn macht. Da müssen Sie mit Geschäftsführer Rolf Bollmann sprechen.

Die Neue Luzerner Zeitung plant eine Pendlerzeitung und hat bei den SBB eine Offerte für die Belieferung von 80 bis 100 Zeitungsboxen an Bahnhöfen eingereicht. Hat 20 Minuten in der Innerschweiz den Zug verpasst?

Nein, wir sind noch immer am Evaluieren. Mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt aber dazu nicht sagen.

Wo sehen Sie 20 Minuten in fünf Jahren?

20 Minuten wird sicherlich die meistgelesene Zeitung der Deutschschweiz sein -- wenn auch zur Zeit ganz viele Leute in ganz vielen Verlagshäusern daran sind, neue Projekte durchzurechnen. An eine Gratiskonkurrenz glaube ich nicht. Doch wie gesagt: Wir sind auf der Hut. Im übrigen vertraue ich darauf, dass wir auf jede Marktveränderung schnell und effizient reagieren könnten. Schliesslich sind wir noch immer "jung", alles andere als träge -- und der Erfolg ist uns auch nicht in den Kopf gestiegen.


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