25.12.2023

Das war 2023

«Missbrauchsfälle zeigen ein strukturelles Versagen»

Von Stellenabbau bis zu #MediaToo: 2023 war kein gutes Jahr für die Medienbranche. Fabienne Kinzelmann, Co-Präsidentin des Vereins Qualität im Journalismus, lässt das Jahr Revue passieren und sagt, was sie trotzdem hoffnungsvoll stimmt.
Das war 2023: «Missbrauchsfälle zeigen ein strukturelles Versagen»
«Der Journalismus war noch nie so wichtig und gleichzeitig so unter Druck wie heute», sagt Fabienne Kinzelmann, Co-Präsidentin des Vereins Qualität im Journalismus (QuaJou) und Journalistin bei der Handelszeitung. (Bild: QuaJou/Anja Wurm, Grafik: Corinne Lüthi)

2023 wurden Dutzende Stellen in Redaktionen gestrichen. Die SRG ist unter Druck. Dazu noch die Missbrauchsaffären. Fabienne Kinzelmann, haben Sie sich überlegt, die Medienbranche zu verlassen?
Ich kenne keine Journalistin und keinen Journalisten, der sich das nicht schon überlegt hat. Auch ich. Im Journalismus zu arbeiten, ist zuweilen deprimierend. Aber Journalistin zu sein, bleibt einer der schönsten Jobs und eines der grössten Privilegien. 

Sie sind Co-Präsidentin des Vereins Qualität im Journalismus. Wenn die Verlagshäuser so viele Stellen streichen, ist dann die Qualität des Journalismus in Gefahr?
Logisch. Der Verlust an journalistischen Stellen schmälert die publizistische Leistung. Und er verstärkt den Braindrain. Sprich, Kolleginnen und Kollegen verlassen die Branche, und junge Leute steigen gar nicht erst ein, weil andere Gebiete attraktiver sind. 

Wie kämpft man dagegen an?
Das ist eine der grössten Herausforderungen für die Medienhäuser. Was den reinen wirtschaftlichen Druck angeht: Kaum ein Medienhaus hat es geschafft, ein digitales Geschäftsmodell zu finden, das funktioniert. Vielleicht sind wir an einem Punkt, an dem es ohne eine breitere Medienförderung einfach nicht mehr geht. Diese darf aber den Wettbewerb und Innovationen nicht behindern. Daher müsste sie an klare Ziele geknüpft sein, etwa was die Qualität, die Abdeckung von Regionen sowie Themen und die journalistische Ausbildung angeht.

Auch die Pressefreiheit ist unter Druck. Eine Motion im Ständerat will den Bundesrat beauftragen, zu prüfen, ob die Veröffentlichung rechtswidrig erhobener Daten unter Strafe gestellt werden soll. Sind Sie erstaunt, dass ein solches Vorhaben in einem demokratischen und liberalen Land wie der Schweiz in Betracht gezogen wird?
Ja und nein. Wie andere Länder in Europa rückt auch die Schweiz weiter nach rechts. Und dass die Pressefreiheit eingeschränkt wird, ist ein Zeichen davon. Das besorgt mich wahnsinnig. Die Schweiz ist seit der Pandemie im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen abgerutscht. Wir müssen insbesondere die politische und gesetzliche Entwicklung genau beobachten und frühzeitig und laut auf Missstände hinweisen. Einmal im Rollen ist es schwierig, eine solche Bewegung wieder aufzuhalten. 

Dabei ist in Zeiten von Fake News und rückläufiger Medienkompetenz der Journalismus wichtiger denn je.
Das ist das Dilemma des Journalismus. So wichtig wie heute und gleichzeitig so unter Druck war er noch nie. Obwohl es viel hervorragenden Journalismus gibt – mehr denn je –, erreicht er viele gesellschaftliche Schichten nicht mehr oder nur unzureichend.

Hat das Publikum nicht verstanden, wie wichtig Journalismus ist?
Viele wissen nicht, wie ein Medium funktioniert, wie Journalisten recherchieren. Für viele junge Leute ist ein Instagram-Kanal gleichbedeutend mit seriöser Medieninformation. Und obwohl Journalismus auf mehr Kanälen zugänglich ist, hat er in der Gesellschaft nicht mehr den gleichen Platz wie früher. Ausserdem haben die Medien dazu beigetragen, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer an eine Gratiskultur gewöhnt haben. Die junge Generation ist nicht damit aufgewachsen, dass journalistische Leistung Geld kostet.

Künstliche Intelligenz kann für die Medien ein nützliches Tool sein, wenn man klare Regeln definiert. Sind die Schweizer Medien gut unterwegs?
Nicht alle, aber einzelne ja. Ohne meine eigene Arbeitgeberin übertrieben loben zu wollen: Ringier hat sehr schnell den Lead übernommen und damit auch die Branche vorangetrieben. Der Verlag hat früh erkannt, dass es Richtlinien für den Umgang damit braucht.

Wie sehen diese Regeln aus?
Ein Beispiel ist die Kennzeichnungspflicht. Bei der Handelszeitung erstellen wir die meisten Grafiken mittlerweile mit dem KI-Modell Midjourney. Das hat uns sehr viel Ressourcen gegeben, weil es schneller geht und die Ergebnisse toll sind. Wir weisen in der Quellenangabe darauf hin, wenn ein Bild mit Hilfe von KI generiert wurde. 

Nutzen auch die Journalisten die KI-Tools?
Ich persönlich benutze sie sehr viel für Übersetzungen, um SEO-Zeilen zu schreiben oder Texte zusammenzufassen. Eine jüngere Kollegin benutzt ChatGPT als Sparringspartner und brainstormt mit ihr, wie ich das früher vielleicht mit erfahrenen Redaktorinnen und Redaktoren gemacht habe. 

«Ausser bei reinen News sind die Texte, die KIs ausspucken, aktuell noch nicht gut genug»

Ist die Versuchung nicht da, ganze Texte mit KI zu generieren?
Ausser bei reinen News sind die Texte, die KIs ausspucken, aktuell noch nicht gut genug. Man merkt auf Social Media, wenn Posts mit ChatGPT erstellt worden sind. Die sind so generisch, dass es irritiert. Aber das Problem von Copy-and-Paste hatte man im Journalismus schon vor ChatGPT. Dass beispielsweise Artikel aus dem Ausland übersetzt und als eigene Artikel ausgegeben werden. 

Manchmal schiessen sich die Journalisten selbst ins Bein. Man denke zum Beispiel an die Corona-Leaks. War es wirklich im öffentlichen Interesse, die Indiskretionen zu publizieren?
Bei der ganzen Geschichte sind zwei Sachen falsch gelaufen. Das eine war der massive Newsbedarf und Newsdruck in der Coronapandemie. Viele Newsrooms wollten dieses Bedürfnis befriedigen und haben oft alles publiziert, was sie in die Hände gekriegt haben, auch zu Lasten der Einordnung. Im Nachhinein kann man leicht sagen: Das wäre nicht so wichtig gewesen. Aber warum sollten Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich eine Information zurückhalten, wenn sie sie haben und daran öffentliches Interesse besteht? Als Journalist Informationen anzunehmen und journalistisch weiterzuverwerten, ist nicht falsch.

Und die zweite Sache, die falsch gelaufen ist?
Das war die Debatte darüber. Die richtige Frage wäre gewesen: Hat ein Bundesrat ein einzelnes Medienhaus bevorzugt – oder schlicht sein Departement nicht im Griff? Stattdessen schoss die Branche auf sich selbst, besonders auf den Ringier-Verlag. Aus meiner Sicht war da viel Neid dabei. Ich habe damals selbst für die Blick-Gruppe gearbeitet und bin sicher voreingenommen, aber ich habe ja live mitgekriegt, wie die Kolleginnen und Kollegen gearbeitet haben, was für gute Kontakte sie geknüpft haben. Wie der Bericht der GPK ja dann auch gezeigt hat, gab es in mehreren Departments Indiskretionen. Zahlreiche Journalistinnen und Journalisten verschiedener Medienhäuser haben in der Pandemie dank Leaks und Whistleblowern tolle, relevante Recherchen veröffentlicht. Gut so.

Die Empörung war also von Journalisten gemacht, und die Affäre hat beim Publikum der Glaubwürdigkeit der Medien nicht geschadet?
Wie dieser Fall in den Medien behandelt wurde, würde es mich nicht wundern, wenn die Glaubwürdigkeit der Medien beim Publikum generell dadurch weiter untergraben wurde. Dies, weil am Anfang die falschen Fragen gestellt wurden. 

«Wo sich Macht konzentriert, wird sie auch missbraucht»

Dazu kommen auch die Missbrauchsaffären bei Tamedia, Republik oder Blick. Es sei ein strukturelles Problem. Unternehmen die Medienhäuser genug, um einen Kulturwandel voranzutreiben?
Nein. Ich glaube, es ändert sich langsam etwas. Aber noch nicht annähernd genug. In fast allen Medienhäusern kamen in diesem Jahr Fälle von Sexismus, Diskriminierung, Mobbing, sexueller Belästigung und Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit. Wo sich Macht konzentriert, wird sie auch missbraucht. Das betrifft aktuell eine bestimmte Geschlechter- und Altersgruppe, weil das die Gruppe ist, die aktuell in der Mehrheit in Machtposition ist. Ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis und andere Strukturen können laut Studien dazu beitragen, dass solche Vorfälle weniger vorkommen und besser aufgearbeitet werden. 

Tamedia hat markant mehr Frauen in Führungspositionen gesetzt dieses Jahr.
Es gibt Massnahmen, die man ergreifen kann, die wissenschaftlich belegt sind. Ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis ist so eine. Es ist auch bekannt, dass gemischte Teams besser performen. Jeder Verlag sollte daher ein Interesse daran haben, die alten Geschlechterverhältnisse aufzubrechen. Ausserdem tragen mehr Perspektive und mehr Vielfalt auch in Sachen Alter, sexuelle Orientierung, Migrationshintergrund und Religion zu mehr Awareness und zu einer besseren Betriebskultur bei. Es braucht auch Schutzräume und Ansprechpartner für Betroffene und Whistleblower sowie klare Policies und Prozesse. Das haben viele Medienunternehmen vernachlässigt.

Sie haben während vier Jahren bei Blick gearbeitet und jetzt bei der Handelszeitung, auch im Hause Ringier. Wie haben Sie auf die Affären rund um Christian Dorer und Werner De Schepper reagiert?
Ich möchte mich nicht zu Einzelfällen äussern. Denn diese zeigen immer auch ein strukturelles Versagen: Es gibt ein Umfeld, das absichtlich oder unabsichtlich nicht genau hinschaut oder gewisse Verhaltensweisen akzeptiert oder sogar fördert. Würden all diese Sachen, über die wir eben gesprochen haben, schon in der Breite existieren, könnten viele Fälle und daraus entstehende Kollateralschäden für alle Beteiligten und Redaktionen frühzeitig verhindert werden. 

Ringier hat die Initiative EqualVoice 2019 lanciert (persoenlich.com berichtete). Sie sind aktiv beteiligt. Spielt sie auch eine Rolle, um solche Fälle zu verhindern?
Die Initiative ist nicht per se gegründet worden, um solche Fälle zu verhindern. Aber sie führt hoffentlich langfristig dazu, dass sie weniger vorkommen. Die Initiative will die Geschlechterverhältnisse in der Berichterstattung verbessern. Es geht um die Frage, wie Frauen in den Medien repräsentiert sind. Da ist bei allen Medien Aufholbedarf.

Gibt es trotz allem etwas Positives, wofür das Medienjahr 2023 in Erinnerung bleiben wird?
(Überlegt.) Die KI als grösste Revolution im Journalismus seit der Digitalisierung. Viele Redaktionen sehen das als Chance, das ist wahnsinnig aufregend. Es gab auch sehr viel guten Journalismus und neue Formate. Ich persönlich schätze täglich das konstant hervorragende Informationsangebot des Deutschlandfunks, die Financial Times, Bloomberg sowie die Newsletter von Politico und Axios. Auch der Nachwuchs in der Branche. Am Journalismustag waren einige junge Leute dabei. Wenn ich 20-Jährige sehe, die wirklich für Journalismus brennen und was reissen wollen, dann denke ich: «Okay, die Branche ist nicht verloren.»

In der Serie «Das war 2023» greifen wir die grossen Themen des Jahres in kompakter Form nochmals auf. Hier finden Sie die Übersicht.


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