Der von Tamedia in Auftrag gegebene aufwendige Bericht der Anwaltskanzlei Rudin Cantieni, die auch den aufsehenerregenden Fall Magglingen untersucht hat, wurde bisher nicht veröffentlicht. Radio 1 hatte Einblicke in dieses Gutachten, und diese würden – so schreibt Radio 1 in einer Medienmitteilung – ein Bild zeigen, das radikal von dem abweiche, welches Anuschka Roshani in ihrem vierseitigen Gastbeitrag im deutschen Magazin «Der Spiegel» veröffentlicht hat (persoenlich.com berichtete). Roger Schawinski präsentierte die wichtigsten Fakten des Untersuchungsberichts bei Radio 1 am Mittwochmittag.
So heisse es laut Schawinski in der Schlussfolgerung des Berichts: «Zusammenfassend ergibt sich, dass auch die meisten Vorwürfe gegenüber Finn Canonica verneint werden mussten ... Bossing gegenüber Anuschka Roshani scheidet aus, da es an der Zielgerichtetheit und Systematik über längere Zeit fehlt und gerade sie auch Privilegien genoss, die andere nicht hatten ... Die Sonderbehandlung eines bezahlten Sabbaticals stellt eine Bevorzugung gegenüber anderen dar und schliesst ein gleichzeitiges Bossing gegenüber Anuschka Roshani eigentlich aus.»
Kritisiert werde Finn Canonica dafür, dass er sich oft «eher grob» und ein «bisschen krass» äussert, «wobei sich dies dennoch im Rahmen einer grundsätzlichen Freundlichkeit und Zugewandtheit zu bewegen scheint.» Die mehrfache Hakenkreuzverwendung könne hingegen «entgegen Finn Canonicas Beteuerung nicht als verrutschter, schlechter Humor angesehen werden.» Sie müsse als «eine Diskriminierung aufgrund der Nationalität gesehen werden, auch wenn sich sonst keinerlei derartige Diskriminierungstendenzen feststellen liessen.» Und weiter: «Nicht bestätigt wurde (von Redaktionsmitgliedern) die Aussage, dass Finn Canonica bösartige, höchst verächtliche Aussagen über Anuschka Roshani machte.»
Damit erschöpfe sich die Kritik an Finn Canonica weitgehend, wie Radio 1 in der Mitteilung weiterschreibt. Viel härter sei das Urteil des Berichts gegenüber einem früheren Mitglied der Magazin-Redaktion (im Weiteren X.Y. genannt), das als Hauptzeuge gegen Finn Canonica auftrete. Roger Schawinski nannte seinen Namen in der Sendung bei Radio 1. Im Bericht von Rudin Cantieni heisse es laut Schawinski dazu: «Nachdem Prof. Dr. Peter Nobels Untersuchung im Jahr 2014 eine basale Lüge von X.Y. gezeigt hatte, vorliegende X.Y. Angaben nachweislich nicht stimmen, kann er nicht als glaubwürdige Quelle eingestuft werden.» So habe das ehemalige Redaktionsmitglied laut Radio 1 erklärt, Finn Canonica habe mit einer Angestellten eine Affäre gehabt. Dies wurde ebenfalls von Anuschka Roshani im Spiegel behauptet. Dazu der Rudin Cantieni-Bericht: «Die Überprüfung von X.Ys Angaben zeigen, dass schon die äusseren Eckpunkte seiner Schilderung nicht stimmen können.»
Über Anuschka Roshanis Verhalten in diesem Zusammenhang erklärt der Bericht: «Anuschka Roshani baut ihre Versionen ihrerseits stetig aus. Anreicherungen können Hinweise auf bewusste Lügen oder aber auf suggestive Einflüsse sein. Vorliegend fand mutmasslich eine Absprache mit X.Y. und eine Angleichung an seine Version statt.» Und weiter: «Bezüglich des Austauschs mit X.Y. bestehen im Übrigen ebenfalls unvereinbare Widersprüche. An der Befragung bei den Untersuchungspersonen führte Anuschka Roshani aus, sie habe mit X.Y. seit seinem Ausscheiden nie mehr Kontakt gehabt, während sie in der Zweitbefragung angab, sie habe sich mit ihm in Verbindung gesetzt.»
Laut Radio 1 habe es noch mehrere solcher Widersprüche gegeben. Doch: «Anuschka Roshani konnte mit den aufgezeigten Widersprüchen und sich ergebenden Fragen nicht konfrontiert werden, da sie für die Untersuchung nicht mehr zur Verfügung stand. Aus Sicht der Untersuchungspersonen lassen sich diese Widersprüche nicht auflösen, es fehlen hinreichende Realitätskriterien.» Und weiter: «Zudem waren die Vorwürfe – entgegen den rechtsvertreterischen Ausführungen – meist schlecht belegt. Diverse Beweismittel, welche Untersuchungspersonen angefordert hatten, wurden nicht eingereicht.»
Anuschka Roshani hat in ihrem Spiegel-Bericht behauptet, Finn Canonica habe in Sitzungen laufend «ficken» gesagt, er habe sexualisierte und fäkalisierte Sprache verwendet. Diesen Vorwurf hat sie in der Untersuchung «im Laufe der Zeit ausgeweitet». Dazu der Bericht: «Dem tatsächlich verwendeten «Fuck» und «Bullshit» sprechen die Untersuchungspersonen eine sexuelle Komponente ab ... Die Begriffe werden zwischenzeitlich auch umgangssprachlich verwendet, sodass sich die Mehrheit der Befragten nicht daran störte. Eine sexuelle Belästigung konnte nicht ausgemacht werden.»
Ein Vorwurf von Anuschka Roshani, auch im Spiegel zitiert, lautet, dass Finn Canonica sie die «Ungefickte» genannt habe. Dazu der Bericht, der eine enge Arbeitskollegin von Anuschka Roshani zitiert: «Ins Auge springt vorab die Verwendung der Terminologie. So äusserte die Arbeitskollegin ursprünglich, Finn Canonica habe die «Untervögelte» gesagt. Anuschka Roshani sprach später von die «Ungefickte», worauf die Arbeitskollegin, die als Einzige den Ausdruck hörte, ebenfalls auf «die Ungefickte» umschwenkte. Unbestritten ist, dass diese Arbeitskollegin und Anuschka Roshani sich austauschten.»
Auch X.Y. hat diesen generellen Vorwurf gegen Finn Canonica erhoben, zuerst gegenüber der Untersuchung, dann offenbar als anonymer Informant von «Watson», und dies mit einem angeblich konkreten Beispiel belegt. Dazu der Bericht: «X.Ys Vorwurf, Finn Canonica habe eine Frauenbrust mit nach oben gerichteter Brustwarze auf dem Pult gehabt und diese jeweils – begleitet von zweideutigen Aussagen – vor weiblichen Bewerberinnen gestreichelt, geht ins Leere. Der fragliche plastische Chirurg bestätigte schriftlich, dass er Finn Canonica erst im Jahr 2018 – nach X.Ys Zeit – ein Brustimplantat schenkte. Implantate sind nicht als Brust zu erkennen und haben insbesondere keine Brustwarzen. Die Untersuchungspersonen gehen nach dem Gesagten von Absprachen zwischen Anuschka Roshani und X.Y. aus.»
Am 16. März 2022 wies der Rechtsvertreter von Anuschka Roshani auf ihren schlechten Gesundheitszustand hin, eine «unhaltbare Situation, für die Tamedia als Arbeitgeberin verantwortlich» sei, sodass sie «bis auf Weiteres 100 Prozent arbeitsunfähig ist.» Im Bericht heisst es dazu: «Offenbar ist vielen Mitgliedern der Redaktion nicht aufgefallen, dass Anuschka Roshani gemäss ihren Aussagen unter der Situation litt, auch gesundheitlich. Einigen war dies bewusst. Einer von diesen wird im Bericht namentlich erwähnt, nämlich Daniel Dunkel, langjähriger Chefredaktor der Tamedia-Publikation Schweizer Familie und langjähriger Verwaltungsrat des Buchverlags Kein & Aber, dessen Gründer, Grossaktionär und Geschäftsführer Peter Haag ist, der Ehemann von Anuschka Roshani. Zum Gesundheitszustand von Anuschka Roshani heisst es im Bericht: «Ein Arztzeugnis liegt den Untersuchungspersonen nicht vor.»
Anuschka Roshani machte auch geltend, dass Tamedia Jahre zu spät auf die von ihr vorgebrachten Vorwürfe gegen Finn Canonica reagiert habe. Auch dazu gebe es «unauflösbare Widersprüche», wie der Bericht festhält: «So fanden gemäss Anuschka Roshanis schriftlicher Eingabe Meldungen ab 2007 statt. An der persönlichen Anhörung wollte sich Anuschka Roshani im Zeitraum von 2012–2015 bei HR gemeldet haben. Die Jahreszahl 2007 wurde nicht mehr genannt und lässt sich auch nicht rekonstruieren. Dass vor dem 9. April 2021 tatsächlich eine Meldung bei HR stattgefunden hätte, wurde nicht belegt. Weder Anuschka Roshani noch HR hatten irgendwelche Unterlagen dazu, wobei Anuschka Roshani ausführte, sie habe sich damals telefonisch gemeldet.»
Der Bericht verweist auf die Fürsorgepflicht des Unternehmens gegenüber seinen Angestellten, erwähnt aber auch Folgendes: «Gleichzeitig hätte Anuschka Roshani mit der Veröffentlichung von negativen Bemerkungen über ihren Vorgesetzten ihre arbeitnehmerische Loyalitätspflicht verletzt. Das wäre ebenfalls nicht akzeptabel gewesen und hätte auch personalrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können.»
In einer ersten Version wurden die Namen der ehemaligen Magazin-Mitarbeitenden genannt. Radio 1 nannte die Namen in der Berichterstattung sowie in der Pressemitteilung.