17.02.2021

Watson

«Wir werden an unseren Geschichten gemessen»

Maurice Thiriet ist seit bald fünf Jahren Chefredaktor von Watson. Vor dem Start von Watson Romandie spricht er über seine Wutanfälle auf der Redaktion und die Bezeichnung «Boomer Boy».
Watson: «Wir werden an unseren Geschichten gemessen»
Für die Werbekampagne zum Start von Watson Romandie lässt er sich vom Starfotografen ablichten: Chefredaktor Maurice Thiriet. (Bild: Maurice Haas)
von Matthias Ackeret

Herr Thiriet, die meisten Leute kennen Sie von Ihren «Chefsache»-Videos auf watson, wo Sie Ihre Mitarbeitenden zurechtweisen. Sind Sie wirklich so?
Ja. Daraus ist das Format ja entstanden. Ich schimpfe im Büro sehr elaboriert über Sachen, die mich ärgern, ich aber nicht ändern kann. Irgendwann hat einer gesagt, man müsste aus diesen Rants ein Videoformat machen.

Und nützt es? Ändern die Leute ihr Verhalten, nachdem Sie über etwas geschimpft haben?
Nein, eigentlich nicht.

Und wie können Sie eine Redaktion führen, wenn niemand tut, was Sie sagen?
Es geht da um Dinge, die nicht direkt etwas mit der journalistischen Arbeit zu tun haben. Wenn Leute an ihrem Pult stinkende Fischgerichte schlürfen oder in Hotpants in Sitzungen kommen, dann ist das zwar indiskutabel, aber Watson wird nicht daran gemessen, wie es im Workplace-Environment hinter den Kulissen aussieht, sondern ob da vorne gute Geschichten rauskommen, die dem redaktionellen Konzept entsprechen.

Sie haben ein redaktionelles Konzept?
Ja, klar. Für ein rein digitales Nachrichtenmedium gab und gibt es ja keine Blaupause. Wir müssen inhaltlich nach dem Handbuch des Qualitätsjournalismus arbeiten, in der Form aber für soziale Medien, Suchmaschinen und Handy-Screens optimiert produzieren. Und das für ein demografisch immer diverser werdendes Publikum. Dafür braucht man einen Plan, und ich behaupte mal, der «Plan Watson» ist nicht so schlecht.

«Internetpräsenz ist nicht gleich Internetpräsenz»

Das würde ich auch sagen, wenn ich Sie wäre. Aber funktioniert der Plan?
Warum sollte er das nicht.

Nun, es sieht alles ein wenig chaotisch aus auf watson.ch, nicht geplant.
Das gehört zum Plan. Der Leistungsauftrag eines Massenmediums wie Watson ist es, die Bevölkerung mit Informationen zu versorgen, um sie entscheidungsmündig zu machen. Dazu muss man die Leute aber zuerst mal erreichen, und die haben mittlerweile sehr diversifizierte Mediennutzungsgewohnheiten. Der Konsum linearer Massenmedien, wie Radio, TV oder Zeitungen, geht zurück.

Aber die haben ja auch alle Internetpräsenzen.
Ja, aber Internetpräsenz ist nicht gleich Internetpräsenz. Die einen konsumieren ihre News direkt ab der Nachrichten-App oder ab News-Readern, andere googeln, wieder andere beziehen ihre Nachrichten von Facebook, Instagram oder anderen Social-Media-Plattformen. Auf all diesen Kanälen sind andere Nutzungsgewohnheiten angelernt. Diesen muss man sich formal anpassen.

Was heisst das konkret, und warum muss das chaotisch aussehen?
Das heisst, dass man seine Titelei und Teaserei, seine Aufmachung der Geschichten, die Konzeption des Storytellings jeweils kanalgerecht anpassen muss. Wenn Sie den Instagram-Usern Abstimmungsvorlagen näherbringen wollen, dann können Sie da nicht mit langen Texten ankommen.

Haben Sie es je probiert?
Wozu? Das ist eine Bild- und Story-Plattform. Also machen Sie das per Video oder Story-Slides, ist doch klar. Die Userschaft von Facebook ist tendenziell ein wenig älter. Die machen das vielleicht lieber in Quiz-Form. Und die App-User haben nichts gegen Texte und lesen auch gern mal einen längeren Text, wenn der gut komponiert und angenehm portioniert ist.

Dann sieht es aber immer noch chaotisch aus.
Klar, wenn auf der Website oder in der App eine längere geschriebene Analyse der US-Wahlen über einem Video zu Sexthemen steht und darunter ein Quiz zu einer inländischen Abstimmungsvorlage, dann mag das chaotisch aussehen. Aber das ist exakt gemäss Plan und ist auch überhaupt nicht schlimm.

Ich finde das schon nicht so angenehm.
Es ist vielleicht noch ein wenig ungewohnt für ein journalistisches Massenmedium. Aber ein wachsender Anteil der Mediennutzenden hat noch nie eine Tageszeitung mit einer Ressortstruktur oder einen linearen TV-Sender mit fixem Programmraster gesehen, wie Sie das gelernt haben. Die verstehen das Konzept von so etwas überhaupt nicht.

Und was ist mit den anderen, den Zeitungslesern und TV-Zuschauerinnen? Für die ist Watson nichts?
Doch. Es sieht auf den ersten Blick allenfalls ein wenig unstrukturiert aus, aber die Blattmacherei, um diesen Begriff aus der alten Medienwelt zu benutzen, folgt einem klaren Raster. Morgens sind Hard News, Soft News, Unterhaltung und alternative Storytellingformen anders gewichtet als am Mittag oder am Abend. Die Leuchtturmformate publizieren wir nach einem für die jeweiligen Kanäle definierten Tages- und Wochenprogramm.

Das tönt wieder sehr nach «altem Medium».
Ja, ich sage doch, es gibt einen Plan. Ohne unité de doctrine geht es nicht, da kann nichts Gescheites dabei rauskommen. Man muss auch als News-Organisation kontinuierlich strukturell und konzeptionell einheitlich arbeiten. Bloss sind die Strukturen und Konzepte darauf ausgelegt, schnell anpassungsfähig zu sein.

Anpassungsfähig im Hinblick worauf?
Auf die sich sehr rasch entwickelnden technologischen Möglichkeiten und die sich ebenso rasch verändernden Nutzungsgewohnheiten. Das ist aber nur der passive Teil.

«Milliarden von Menschen kommen ständig mit neuem Zeugs ins Netz, das kann man alles auch für journalistische Zwecke missbrauchen»

Und welcher ist der aktive Teil?
Na, dass man als Journalistin oder Journalist im digitalen Raum eben nicht mehr nur
schreiben, eine TV-Sendung oder einen Radio-Spot machen kann. Es ist viel mehr möglich, aber man muss es sich eben überlegen, was man machen will und kann.

Zum Beispiel?
Sie können Daten visualisieren, sie können Spiele bauen, sie können Videos machen –  ernsthafte oder unterhaltsame – nur schön müssen sie immer sein. Sie können sich
des kompletten Storytelling-Formen-Universums bedienen, das das Internet fortlaufend aus sich selbst heraus gebiert. Das hört ja nie auf. Milliarden von Menschen kommen ständig mit neuem Zeugs ins Netz, das kann man alles auch für journalistische Zwecke missbrauchen.

Aber können Sie das denn? Man hört, Sie würden intern gern als «Boomer-Boy» und «Mamil» bezeichnet, der von neuen Medien wenig Ahnung habe.
Was soll das heissen?

Das eine ist die Bezeichnung für Angehörige der Nachkriegsgeneration der Babyboomer, und das andere ist die Abkürzung für «Middle-Aged Man in Lycra».
Ach so. Also, das höre ich jetzt zum ersten Mal. Aber das ist ja auf der nach oben offenen Skala des Chef-Bashings noch einigermassen nett. Natürlich bin ich kein TikTok-Native, aber der Job eines Chefredaktors ist es ja auch nicht, alles selber zu können.




Maurice Thiriet startete seine journalistische Laufbahn bei persoenlich.com. 2006 wechselte er als Reporter zu «20 Minuten Online». Ab 2008 arbeitete er als Inland-Redaktor des Tages-Anzeigers, sechs Jahre später – 2014 – gehörte er dem Gründungsteam von Watson an, dessen Redaktion er seit Juli 2016 als Chefredaktor vorsteht. Thiriet ist Träger des Zürcher Journalistenpreises und Chefredaktor des Jahres 2019. Der Militärhistoriker mit Lizenziat des Historischen Seminars der Universität Zürich lebt in Zürich Seebach und widmet sich in seiner Freizeit dem Radsport und der Aquaristik.


Das vollständige Interview lesen Sie in der zweisprachigen Sonderausgabe des persönlich-Printmagazins, die der aktuellen Ausgabe beiliegt.



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

  • Robert Weingart , 18.02.2021 12:39 Uhr
    @Seiler: Ist das so? Nimmt man Watson heute wirklich ernst?
  • Yves Seiler, 18.02.2021 08:25 Uhr
    Ich finde Maurice Thiriet macht einen ausgezeichneten Job! In diesem speziellen Umfeld braucht es genau diese Art von Führungsperson, sonst wäre das Chaos perfekt. Jetzt einfach nicht ausruhen und sich ständig weiterentwickeln. Der nächste Schritt, die Weiterentwicklung wird ziemlich anspruchsvoll sein. Wenn man aber denkt, wie ernst man Watson noch vor 3 Jahren genommen hat und wo sie heute stehen. Chapeau.
  • Robert Weingart , 17.02.2021 22:17 Uhr
    Soll man den als Chef ernstnehmen?
Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240425