31.03.2020

Corona-Pandemie

«Man vertraute den Anweisungen des Bundesrates»

Der Schaffhauser Historiker und Buchautor Matthias Wipf hat sich in mehreren Büchern mit der Schweiz während des zweiten Weltkriegs beschäftigt. Er beurteilt, ob sich die Stimmungslage während in den 1940er-Jahren mit der heutigen vergleichen lässt.
Corona-Pandemie: «Man vertraute den Anweisungen des Bundesrates»
Matthias Wipf ist als promovierter Historiker und Publizist. (Bild: zVg.)
von Matthias Ackeret

Herr Wipf, Sie haben verschiedene Bücher über die Schweiz im zweiten Weltkrieg publiziert. War die Stimmung innerhalb der Bevölkerung damals ähnlich wie heute?
Direkt vergleichen kann man das sicherlich nicht – auch wenn heute wie damals eine starke Unsicherheit und Nervosität herrscht. Die Situation während eines Krieges ist dann aber doch nochmals eine andere. Immerhin war unser Land zeitweise fast gänzlich von den «Achsenmächten» umschlossen, und man musste immer befürchten, dass ein Angriff von Nazi-Deutschland erfolgen könnte. Die Armee baute Bunkeranlagen und postierte sich an der Grenze – und später im sogenannten Réduit im Landesinnern. Es wurden, im Zuge der sogenannten Anbauschlacht, alle verfügbaren Grünflächen oder etwa auch Sportplätze zu Getreide- und Kartoffelfeldern umgenutzt. Ganz grundsätzlich waren die Lebensmittel rationiert. Und später gab es, wie wir wissen, dann sogar irrtümliche Bombardierungen unseres Landes mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten. Sie sehen also, die Bedrohungssituation war damals doch nochmals eine andere als heute. Was vielleicht aber speziell ist, ist die Tatsache, dass während der Kriegsjahre der Feind – die Nazis – ganz klar benannt werden konnte, während die Ängste heute sehr diffus sind.

Gab es denn während des Zweiten Weltkrieges eine speziell bedrohliche Situation für unser Land?
Ja, die gab es durchaus: Im sogenannten «heissen Mai» 1940 – im Zuge des deutschen Westfeldzuges – rechnete die Bevölkerung damals fast stündlich mit einer Invasion, und vor allem aus den speziell exponierten Grenzregionen flüchteten viele Leute ins Landesinnere in vermeintliche Sicherheit. Es ist beklemmend, wenn man Briefe oder Tagebucheinträge aus jener Zeit liest, in der die Bevölkerung unseres Landes sich ganz offensichtlich «verloren» fühlte, «mit allem abgeschlossen» hatte oder beispielsweise die Befürchtung äusserte,  es werde, auf dem Brief, «die nächste Briefmarke wohl eine deutsche» sein. Auch die Industrie, und ganz speziell die Banken, traf damals übrigens weitgehende Evakuationsmassnahmen oder dislozierte zum Teil sogar ins Landesinnere. In Industriefirmen wurden zudem Teile der Maschinen gekennzeichnet, um sie im Falle eines Angriffes Nazi-Deutschlands sofort unbrauchbar zu machen. Ich habe das alles in meinem Buch «Bedrohte Grenzregion» beschrieben. 

Jetzt ist in der Schweiz das «normale» Leben praktisch zum Erliegen gekommen. Wie war dies während des zweiten Weltkriegs?
Ein gewichtiger Unterschied ist, dass Veranstaltungen damals noch stattfanden, seien es Vorträge oder Kino-und Museums-Besuche, Sportanlässe und sonstige gesellschaftliche Zusammenkünfte. Dinge, die uns heute ganz speziell fehlen. Umso mehr, als dass wir heute natürlich viel hedonistischer unterwegs sind als damals. Im beruflichen Alltag gab es damals wie heute verschiedene Einschränkungen: Natürlich musste man auf gewisse Arbeiter, die im Aktivdienst waren, verzichten. Es gab, wie oben geschildert, verschiedene weitere Einschränkungen, und importiertes Rohmaterial wurde – in unserem Rohstoff-armen Land – vielfach für die Rüstungsindustrie benötigt. Zudem gab es – das versteht sich von selbst – damals noch nicht diese Möglichkeiten von Home-Office. Wie heute gab es aber auch während der Kriegsjahre Firmen, die sogar von der Krise profitiert haben. 

Gab es denn auch eine Ausgangssperre?
Nein, eine solche Ausgangssperre, wie wir sie jetzt schon in gewissem Masse haben – und die allenfalls noch verstärkt werden könnte –, gab es in den Kriegsjahren nie. Spannend ist aber noch, dass der Bundesrat das sogenannte Vollmachtenregime, also Notrecht, wie wir es heute auch wieder kennen, nach dem Zweiten Weltkrieg nur sehr ungern wieder aufgab. Es brauchte 1949 sogar eine Volksinitiative unter dem Titel «Rückkehr zur direkten Demokratie», und erst Ende 1952, also mehr als sieben Jahre nach Kriegsende, wurden die letzten Vollmachtenerlasse wieder aufgehoben.

Wie nahm die Bevölkerung damals, vor achtzig Jahren, die Anweisungen des Bundesrates entgegen?
Ganz grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass man in den 1930er/-40er Jahren die Anweisungen der politischen und militärischen Behörden viel weniger hinterfragte. Man nahm sie einfach hin und vertraute darauf, dass diese schon richtig waren. Wenn man Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von damals befragt, ob sie etwa überzeugt gewesen seien vom Réduit-Plan General Guisans, von der sogenannten «Verdunkelung» in den Grenzregionen oder auch von Massnahmen wie der Pressezensur, dann antworten sie ganz klar, man habe die Anordnungen halt einfach befolgt. Da leben wir heute schon in einer anderen Welt – nochmals speziell mit den Social Media. Zwar ist die Information der Bevölkerung besser – aber gleichzeitig gibt es auch, wie ich es nennen würde, richtige Panik-Spiralen. Jeder ist nun Sender und «Experte», es zirkulieren Verschwörungstheorien und werden Beiträge unkritisch weiter verbreitet. So was kann natürlich die Nervosität oder auch Angst dramatisch verstärken. Und man kann nur immer wieder dazu aufrufen, doch bitte verantwortungsvoller mit solchen «Informationen» umzugehen.

Auch jetzt ist die Schweiz vom Ausland völlig abgeriegelt, ein einmaliger Vorgang seit 1945. Sie leben selbst in Schaffhausen, direkt an der Grenze. Realisiert man, dass man von der Aussenwelt praktisch abgeschnitten ist?
Die Situation ist auch diesbezüglich gar nicht zu vergleichen mit dem Zweiten Weltkrieg. Damals fühlte man sich – speziell als die Truppen bereits im Dezember 1939 weit südlich des Rheins in die sogenannte «Limmat-Stellung» und später ins erwähnte «Réduit» verlegt wurden – regelrecht abgeschnitten vom Rest der Schweiz. Man wusste auch, dass die Rheinbrücken geladen waren und jederzeit hätten gesprengt werden können. In Schaffhausen, aber auch in Basel kam dazu, dass deutsche Truppen gegebenenfalls auf den Schienen der Deutschen Reichsbahn (der heutigen DB) direkt und fast unbemerkt hätten in die Grenzbahnhöfe einfahren können. Zeitzeugen sprachen damals von einem «verlorenen Zipfel jenseits des Rheins». Und man muss sich vorstellen: Oft waren die Familienväter damals im Landesinnern im Militär – und die Mütter und (kleinen) Kinder allein an der Grenze, in der geschilderten ungewissen, bedrohlichen Situation. Das führte übrigens zu Ende des Krieges nicht nur zu Freude und Erleichterung am sogenannten «Tag des Friedens» im Mai 1945 – sondern es entlud sich, etwa in Schaffhausen, durchaus auch ein gewisser Frust, der sich etwa in Krawallen gegen die sogenannten «Fröntler», die Schweizer Nazi-Sympathisanten, richtete. Wenn man da heute – lassen Sie mich das so sagen – mal nicht mehr ins nahe Deutschland zum Einkaufen, Essen oder ins Kino kann, dann sollte das doch eigentlich verschmerzbar sein (schmunzelt).

Sie arbeiten als Historiker und Moderator von Anlässen. Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Ihr Leben und Ihre berufliche Tätigkeit aus?
Bei den Moderationen ist es schon so, dass bei mir – wie bei Kollegen natürlich auch – innert einigen wenigen Tagen restlos alle Aufträge weggebrochen sind. Gerade noch hatte ich für die kommenden Monate fast zu viele Moderationen geplant, und jetzt werden bereits erste Veranstaltungen von Mitte Juni wieder abgesagt. Und neue Aufträge, für die jeweiligen «Peak-Monate» Mai und Juni, kommen natürlich auch nicht rein. Ich muss sagen, das ist schon noch eine spezielle Situation – und da merkt man, dass eine Position mit Fixlohn doch auch Vorteile haben könnte. Immerhin habe ich – im Unterschied zu Kollegen, die sich «nur» auf Moderationen beschränken – doch auch den einen oder andern publizistischen Auftrag im Moment. Ich bin zum Beispiel gerade am Schreiben einer Biographie, die zwar erst nächstes Jahr erscheint, an der ich aber jetzt fast ‹ungestört› schreiben kann. Und dann kann ich mich abends – in der Zeit, während der ich sonst oft am Moderieren bin – auch einfach mal ganz ruhig hinsetzen und etwas lesen. Im Moment etwa «Faschismus - eine Warnung» von Madeleine Albright oder «Die Bagage» von Monika Helfer. Ich versuche also, der aktuell schwierigen Situation vor allem das Positive abzugewinnen – und wünsche allen Kolleginnen und Kollegen in der Kommunikations- und Eventbranche ebenfalls ganz viel Geduld und Zuversicht. Wie sagte Kollegin Nina Ruge immer so treffend: «Alles wird gut!»

 

 


Matthias Wipf (*1972) ist als promovierter Historiker und Publizist, als Berater für Kommunikation und Events sowie als Moderator für Diskussionsrunden, Konferenzen und Firmenanlässe tätig.



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