23.06.2020

Serie zum Coronavirus

«Klassische Werbung ist ein Auslaufmodell»

Kolle Rebbe, Karmarama oder Droga5: Sie alle gehören zu Accenture, der globalen Firma, die sich auf die digitale Transformation spezialisiert hat. Auf welche Veränderungen muss sich die Marketingbranche einstellen? Antworten in Folge 70 unserer Serie von Accenture Interactive Chef Thomas Ruck.
Serie zum Coronavirus: «Klassische Werbung ist ein Auslaufmodell»
Als Accenture Interactive Chef beschäftigt sich Thomas Ruck unter anderem mit der Frage, wie technologische Innovation das Marketing und die Werbung verändern. (Bild: zVg.)
von Matthias Ackeret

Herr Ruck, generell gefragt: Wird sich die Welt nach dieser Krise stark verändern?
Covid-19 ist zweifellos ein Katalysator für grosse Veränderungen – nicht nur für die Wirtschaft insgesamt, sondern gerade auch für Marketing und Werbung. Zum einen bin ich überzeugt, dass die Konsumenten sich zukünftig viel bewusster mit Marken auseinandersetzen und ihre Konsumgewohnheiten ändern werden. In einer von uns im April durchgeführten weltweiten Konsumentenumfrage zeigt sich, dass Gesundheitsnutzen, Nachhaltigkeit und lokale Produktion bei den Kaufentscheidungen wichtiger werden.

Und sonst?
Viele Menschen wollen zudem stärker auf den Preis schauen oder insgesamt weniger Geld für Einkäufe ausgeben. Das tun sie nicht unbedingt, weil sie in der Rezession sparen müssen, sondern auch, weil die Pandemie ein neues Bewusstsein für das, was wirklich notwendig oder ihnen persönlich wichtig ist, geschaffen hat.

Die andere grosse Entwicklung, die Covid-19 ausgelöst hat, ist ein deutlich höheres Tempo bei der Digitalisierung.
Ja, das hat viele Unternehmen zunächst auf dem kalten Fuss erwischt; jetzt steht das Thema ganz oben auf ihrer Agenda. Gerade die Kundenansprache über digitale Kanäle und E-Commerce werden wichtiger – wenn nicht gar überlebenswichtig. Damit rennen die Unternehmen bei den Konsumenten offene Türen ein, denn der Lockdown hat uns alle offener gegenüber digitalen Interaktionen werden lassen.     

Ist in den letzten Wochen die Nachfrage nach Beratungen gestiegen?
Der Beratungsmarkt hat auf die Covid-19-Pandemie ganz unterschiedlich reagiert; in einigen Bereichen steigt die Nachfrage, in anderen sinkt sie. Accenture Interactive ist mit seinem Fokus auf Digitalisierung ja genau auf die Themen spezialisiert, die für Unternehmen in den letzten Wochen noch wichtiger geworden sind. Ein Schwerpunkt in der Beratung liegt aktuell darin, die Kunden beim Hochfahren ihres Geschäfts nach dem Lockdown zu unterstützen. Da geht es natürlich nicht nur um Betriebsabläufe, sondern vor allem auch um die Frage, wie der Absatz wieder in Schwung kommt.

Was sind die zentralen Bedürfnisse Ihrer Kunden?
Sie fragen sich zum Beispiel, welche neuen digitalen Produkte und Services sie neben dem bestehenden Portfolio entwickeln sollen. Viele Unternehmen, die bisher ausschliesslich über Zwischenhändler oder den stationären Handel im Markt waren, überlegen nun, ihre Produkte zusätzlich selber – zum Beispiel über einen eigenen Online-Shop – zu vertreiben. Die direkte Kundenbeziehung wird auf jeden Fall wichtiger.

Accenture Interactive ist weltweit aufgestellt. In welchem Zustand befinden sich die Schweizer Unternehmen?
Viele Unternehmen, für die wir in der Schweiz arbeiten, sind global aufgestellt und verkaufen ihre Produkte vor allem auf dem Weltmarkt. Sie sind vom Export und funktionierenden Lieferketten abhängig. Deshalb trifft sie Covid-19, abhängig von ihrer Branche, jetzt hart. Das gilt aber umgekehrt auch für die Firmen, die vor allem auf dem Heimatmarkt ihr Geld verdienen, denn der Lockdown hat auch sie von ihren Kunden «abgeschnitten». Jetzt, wo wir langsam zur Normalität zurückkehren, zieht die Nachfrage hierzulande wieder an. Wenn aber die Absatzmärkte im Ausland über längere Zeit wegfallen, können wir das in einem kleinen Land wie der Schweiz nicht allein durch einen stärkeren Konsum kompensieren, selbst wenn jetzt jeder Schweizer drei Uhren am Handgelenk tragen würde. Dennoch ist mein Blick nach vorne eher von Zuversicht geprägt: Ich höre von vielen Kunden, dass sie die Krise als Weckruf sehen, sich jetzt neu aufzustellen und in die Zukunft zu investieren. So gesehen hat die aktuelle Situation trotz aller Herausforderungen auch etwas Gutes.

Wie wird sich die Wirtschaft in den nächsten Monaten entwickeln? Wird es weniger schlimm wie viele hoffen?
Wenn Sie die Prognosen der Wirtschaftsinstitute lesen und miteinander vergleichen, dann ist von «die schwerste Rezession seit 100 Jahren» bis hin zu «die Wirtschaft erholt sich schneller als gedacht» alles dabei. Niemand weiss so richtig, ob wir gerade im Auge des Sturms stehen oder die Talsohle schon durchschritten haben. Den Unternehmen fällt es deshalb schwer, langfristig zu planen und damit auch zu investieren. Letztlich hängt die Entwicklung sehr stark von der Branche ab. Das Gastgewerbe und die Tourismusindustrie werden zum Beispiel noch längere Zeit damit zu kämpfen haben, dass die Gäste aus dem Ausland wegbleiben und möglicherweise auch zukünftig weniger reisen werden. In anderen Branchen ist das Bild weniger einheitlich, allerdings werden die Karten jetzt neu verteilt.

Was heisst das?
Die Unternehmen, die am schnellsten auf die veränderte Kundennachfrage reagieren, und sich vor allem bei der Kommunikation und im Vertrieb digital neu erfinden, werden sich schneller erholen. Ich persönlich bin aber positiv gestimmt, dass die Wirtschaft, zumindest in der Schweiz, schnell wieder an Fahrt aufnimmt. Die ersten Indikatoren zeigen ja, dass der Trend bereits nach oben geht. Viel wird auch vom Privatkonsum abhängen – und das haben wir alle selbst in der Hand.

Accenture Interactive ist auch in der Werbebranche tätig. Wie wird sich diese in der nächsten Zeit verändern?
Klassische Werbung ist ein Auslaufmodell – das galt auch schon vorher, aber Covid-19 beschleunigt diesen Wandel. Ich glaube, dass die Branche sich vor allem auf drei grosse Veränderungen einstellen muss. Erstens werden «laute» Imagekampagnen, die über alle Kanäle hinweg laufen und einfach nur Aufmerksamkeit erzeugen sollen, weniger. Werbung wird insgesamt «leiser», vor allem aber personalisierter und damit für den einzelnen Konsumenten noch relevanter.

Und zweitens?
Viele Unternehmen stehen in der Wirtschaftskrise unter finanziellem Druck und müssen sich sehr genau überlegen, in welche Marketingformate sie ihr Geld zukünftig investieren und was für ein Betriebs- und Agenturmodell sie verfolgen. Ich bin mir sicher: Sie werden ihre Franken dort ausgeben, wo sie die Wirkung von Werbung genau nachverfolgen können, und das ist nun mal die individualisierte Konsumentenansprache über digitale Formate. Drittens, und das ist die weitreichendste Veränderung, werden Marken sich zukünftig viel stärker über Produkt- und Serviceerlebnisse – und nicht über Werbung – differenzieren.

Wie meinen Sie das?
Zukünftig gilt: «The customer experience is the new branding». Wer einen Blick auf die Liste der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt wirft, stellt schnell fest, dass dort vor allem Experience-getriebene Player vertreten sind. Der Grund für ihren Erfolg: Sie haben – meist digitale – Produkte und Services geschaffen, die ihren Kunden einen klar spürbaren Mehrwert liefern. Der Nutzen ist so eindeutig, dass es dafür keine Vermarktung mehr braucht. Wir nennen so etwas auch «transformationale Produkte», weil sie eine ganz neue Interaktion zwischen Nutzer und Produkt ermöglichen, neue Verhaltensmuster bei den Nutzern etablieren und damit die Spielregeln ganzer Industrien verändern.

Machen Sie ein Beispiel?
Wenn ihnen die Suchmaschine auf Grund ihrer Positionsdaten und ihrer Suchhistorie automatisch für sie interessante Restaurants in der Nähe vorschlägt und dann noch das Taxi ruft, das sie dorthin bringt, macht das ihr Leben erheblich leichter. Das ist 100 Prozent Nutzerlebnis und Mehrwert – da brauchen Sie keine Werbekampagne, die darauf abzielt, den Mehrwert einer solchen Suchmaschine bekannt zu machen. Oder haben sie schon mal eine Werbung für Google gesehen?

Wie sieht für Sie das Agenturmodell der Zukunft aus?
Das soll nicht überheblich klingen, aber mit Accenture Interactive bauen wir gerade den Prototypen für genau diese Agentur der Zukunft. Was machen wir anders als die klassischen Player? Wir stellen das Kundenerlebnis und den Mehrwert, den ein Unternehmen durch seine Produkte und Services seinen Kunden im Alltag bietet, in den Mittelpunkt. Darüber hinaus setzen wir auf die Verbindung von Kreativität und Technologie, um die Konsumenten in der Kommunikation dazu noch individueller anzusprechen und die persönliche Relevanz eines Produktes oder einer Marke herauszustellen.

Was machen Sie anders?
Während klassische Agenturen vor allem die Vermarktung im Blick haben, setzen wir viel früher an: Gemeinsam mit unseren Klienten konzipieren, bauen und – ganz zum Schluss – vermarkten wir transformationale Produkte. Für diese Form der partnerschaftlichen Zusammenarbeit über sämtliche Stufen des Entstehungs- und Vermarktungsprozesses braucht es vielfältige und teils hochspezialisierte Kompetenzen und, je länger je mehr, ein sehr tiefes Technologieverständnis – so etwas können nur wenige Player am Markt wirklich leisten. Der Begriff «Agenturmodell» greift dafür zu kurz, denn wir reden nicht mehr über eine Dienstleistung, die gegen Honorar erbracht wird. Stattdessen entsteht ein «Partnermodell», in dem Agentur und Klient gleiche Interessen verfolgen und über eine enge Zusammenarbeit auf Augenhöhe neue Produkt- und Markenerlebnisse schaffen.

Und wo bleibt die Kreativität? 
Die «Agentur» wird von der Ideenschmiede für Werbekampagnen zum «Partner» für Unternehmenserfolg – der sich auch genau daran messen und bezahlen lässt. Trotzdem bleibt Kreativität wichtig, nur ist sie nicht mehr der Ausgangspunkt jeder Kampagne. Bei Accenture Interactive sind wir daher sehr froh darüber, dass wir mit Kolle Rebbe, Karmarama oder Droga5 einige der spannendsten Kreativagenturen unter unserem Dach haben.

Welche Rolle spielt künftig die künstliche Intelligenz im Marketing?
Technologie gewinnt im Marketing insgesamt an Bedeutung – und Künstliche Intelligenz ist hier ein wichtiger Trend. Die KI wird alle Prozesse im Marketing stark verändern, von der Kampagnenplanung und Kreation über die Kundenansprache bis hin zur Erfolgsmessung. Ich glaube aber nicht, dass eine Künstliche Intelligenz den menschlichen Einfallsreichtum ersetzen wird. Vielmehr ist die Technologie ein Werkzeug, dass uns in der Werbung und im Marketing dabei hilft, unsere Zielgruppen noch genauer zu segmentieren und mit den richtigen, personalisierten Botschaften anzusprechen.

Und bei der Kreation?
Auch hier eröffnet die KI uns neue Möglichkeiten, wirklich ausgefallene Konzepte zu entwickeln. Wir haben zum Beispiel für Disney ein interaktives Filmplakat entwickelt, dass die Stimmung des Betrachters erkennt und den Inhalt des Plakates daraufhin anpasst. Für die Zeitung «The Times» haben wir John F. Kennedy «zum Leben erweckt» und ihn mit Hilfe von Sprachanalyse viele Jahrzehnte später endlich die Rede halten lassen, die er ursprünglich an seinem Todestag geplant hatte. Und bei der Messung der Werbewirksamkeit ermöglicht KI natürlich einen viel genaueren Einblick in die individuelle Customer Journey eines Kunden. Bisher sehen wir nur, an welchem Punkt die Conversion passiert, aber nicht, welche Kanäle vorher im Spiel und möglicherweise viel wichtiger waren als der erste oder letzte Kontaktpunkt. Hier schafft KI eine ganz neue Transparenz. Das ist wichtig, um Kampagnen in Echtzeit zu optimieren. 

Wie haben Sie selbst den Lockdown erlebt?
Ich war vor allem von der Solidarität der Menschen untereinander, aber auch dem engen Zusammenhalt unter den Kollegen, positiv überrascht. In der Ausnahmesituation der letzten Wochen sind wir alle zusammengerückt und haben uns gegenseitig unterstützt. Viele sind an ihre Grenzen gegangen, weil sie Beruf und Privatleben irgendwie unter einen Hut bekommen mussten. Ich weiss, wovon ich spreche, denn unsere drei Kinder waren statt in der Schule ebenfalls die ganze Zeit zu Hause. Da ist ein Spirit entstanden, der noch lange über den Lockdown hinaus bestehen bleiben wird.

Und im beruflichen Alltag?
Hier waren die Auswirkungen auf die tägliche Arbeit eher gering, denn ich arbeite schon seit vielen Jahren mal mehr und mal weniger virtuell mit meinem Team und den Kunden zusammen. Wir mussten uns also keine Gedanken darüber machen, wie wir jetzt aus dem Homeoffice an die Daten auf dem Server kommen oder welchen Dienst wir für Videocalls nutzen sollen. Neu war allerdings, auch Kreativ-Workshops als rein virtuelles Format ohne persönlichen Kontakt durchzuführen. Ich war überrascht, wie gut es dann letztlich geklappt hat. Dennoch freue ich mich, bald wieder bei einer Tasse Tee mit dem Kunden zusammenzusitzen und über gemeinsame Projekte zu reden. Es ist auch schön, meine Teams und Partner bald wieder persönlich und nicht nur als Icon auf dem Smartphone zu sehen.  

War der Schaden für Ihr Unternehmen gross?
Accenture Interactive stand vor Covid-19 schon dort, wo der gesamte Markt sich jetzt hin entwickelt: Weg von klassischer Werbung und Digitalmarketing in der Breite hin zu personalisierten Erlebnissen. Wir haben in vielen Bereichen, wie etwa E-Commerce, eine deutlich höhere Nachfrage gespürt. Die Unternehmen müssen ja trotz des Lockdowns ihre Kunden erreichen – und wenn diese nicht mehr ins Ladengeschäft gehen, müssen die Unternehmen eben ins Wohnzimmer des Kunden kommen. Uns ist auch klar, dass die Werbebudgets in der Krise zusammengestrichen werden, aber wir sehen das gelassen, weil wir keine klassische Werbeagentur sind und einen ganz anderen Schwerpunkt haben. 

Und eine private Frage: was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Wochen?
In unserer Branche geht es ja oft nur um «höher, schneller, weiter» und der Lockdown hat viele von uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die vergangenen Wochen haben mir gezeigt, dass wir alle mit viel weniger zurechtkommen, wenn wir es wollen. Darüber hinaus hat sich meine Kreativität etwas weg vom Geschäft hin auf die Frage gerichtet: Wie beschäftige und unterstütze ich unsere drei Kinder, die den ganzen Tag zuhause waren? Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass man mit den Spracheinstellungen der Kaffeemaschine ganz prima Finnisch lernen kann. Wir wissen jetzt alle, was zu tun ist, wenn mal wieder «Ei tarpeeksi kahvia» auf dem Display aufleuchtet – nämlich Kaffeepulver nachfüllen.   

 


Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.



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