15.12.2022

Das war 2022

«Musk hat sich als ignoranter Milliardär gezeigt»

Die Twitter-Übernahme durch Elon Musk und das Metaverse haben die Digitalberichterstattung 2022 dominiert. Tamedia-Journalist Matthias Schüssler blickt im Interview auf beide Themen zurück, sagt, weshalb das Netzwerk unter Musk doch eine Zukunft haben könnte – und warum er Firmen davon abrät, ihr Geld im Metaversum «zu verbrennen».
Das war 2022: «Musk hat sich als ignoranter Milliardär gezeigt»
«Wenn sich ein CEO eines grossen Medienhauses fürs Metaversum in die Bresche wirft, dann stellt er sich in den Dienst von Mark Zuckerberg», sagt Matthias Schüssler, langjähriger Digitalredaktor der Redaktion Tamedia. (Bild: Tamedia, Grafik: Corinne Lüthi)

Herr Schüssler*, mögen Sie sich an Elon Musks ersten Versuch im April 2022 erinnern, Twitter zu kaufen? Wie haben Sie davon Kenntnis genommen und was ging Ihnen damals durch den Kopf?
Ich erinnere mich gut daran. Das war auf der Redaktion ein riesiges Thema, und ich habe in einem Meinungsstück geschrieben, dass «Musk für Twitter ein Glücksfall» sei. Ich habe zwar in Betracht gezogen, dass er seine Vorstellung der «absoluten Meinungsfreiheit» radikal durchzieht. Aber ich habe es für wahrscheinlicher gehalten, dass er Twitter wie postuliert tatsächlich zu einem globalen Marktplatz der Ideen machen will und sich einen Masterplan überlegt hat, wie sich Meinungsfreiheit und ein umgängliches Diskussionsklima unter einen Hut bringen lassen. Nun, das war eines der grössten Fehlurteile in meiner bisherigen Journalistenkarriere.

Nachdem Musks Übernahme fix war, schrieb inside-it.ch-Chefredaktor Reto Vogt in einem persoenlich.com-Blog: «Ich halte es für brandgefährlich, dass ein punkto Meinungsbildung höchst relevantes soziales Netzwerk wie Twitter privat – sprich: unkontrolliert – geführt wird.» Teilen Sie seine Ansicht?
Meta ist eine Aktiengesellschaft, doch ich sehe nicht, dass das Aktionariat Mark Zuckerberg zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung gedrängt hätte. Es könnte umgekehrt auch so sein, dass ein privat gehaltenes Unternehmen weniger Gewinndruck hat und dadurch mehr Rücksicht auf die Nutzerinnen und Nutzer nehmen kann. Meiner Ansicht nach muss die Kontrolle, wenn sie nicht innerhalb des Unternehmens stattfindet, von aussen kommen. Zum Beispiel von der EU: Die hat gedroht, Twitter zu verbieten, wenn die Inhaltsmoderation nicht den Mindeststandards genügt. Sie sollte nicht zögern, diese Drohung umzusetzen. 

Spätestens nach diesem politischen Druck auf Twitter drängt sich diese Frage auf: Hat das Netzwerk unter Musk überhaupt eine Zukunft?
Ja, aber die hängt von Musks Fähigkeit zum Einlenken ab. Die scheint mir vorhanden: Er hat erst einen «Krieg» ausgerufen, nachdem ihm Apple mit dem Rauswurf aus dem App Store gedroht hatte, dann aber – offenbar nach einem Gespräch mit Apple-Chef Tim Cook, bei dem sie um den Teich im Apple Park spaziert sind – versöhnlichere Töne angeschlagen.

Auch wirtschaftlich steht das Netzwerk unter Druck: Immer mehr Werbekunden verlassen Twitter – darunter auch Schweizer Unternehmen wie Swisscom und Schweiz Tourismus. Ist der Onlinedienst noch ein vertrauenswürdiges Werbeumfeld?
Nein. Nachdem auch Neonazis wie Andrew Anglin nach jahrelanger Sperrung auf die Plattform zurückkehren durften, müssen Werbekunden damit rechnen, dass ihre Botschaften in einem unangemessenen Umfeld erscheinen.

«Hass ist keine Meinung – und darum war die Meinungsfreiheit schon vor Musks Amtsantritt gewährleistet»

Musk ist mit dem Versprechen angetreten, die Redefreiheit auf Twitter zu verbessern. Wird er dem bisher gerecht? Oder waren diese Worte ein reiner Marketing-Gag?
Hass ist keine Meinung – und darum war die Meinungsfreiheit schon vor Musks Amtsantritt gewährleistet. Musk bezeichnet sich als «Absolutist der Meinungsfreiheit», was so viel heisst, dass auch ungeheuerliche Dinge ungestraft gesagt werden können. Das ist kein Marketing-Gag, sondern ein Anliegen aus jenen Kreisen, die Gesetze und gesellschaftliche Schranken als hinderlich für die Durchsetzung ihrer Wertvorstellungen betrachten.

Man fragt sich: Was war die eigentliche Motivation Musks, Twitter zu erwerben?
Seine Egomanie.

Für weltweites Unverständnis sorgte Musk mit der Entlassung von rund 4000 Mitarbeitern – was er via Rundmail kommunizierte. Inwieweit hat das seinem ohnehin angekratzten Ruf nachhaltig geschadet?
Das war schlicht dumm. Da einige der Mitarbeiter hinterher wieder zurückgeholt werden mussten, war es offensichtlich, dass diese Entlassungen eine Machtdemonstration waren und sich Musk noch nicht einmal überlegt hatte, welche Leute für den sicheren Betrieb überhaupt notwendig sind. Musk hat sich als ignoranter Milliardär gezeigt, wie er im Buch steht.

Nicht nur bei Twitter, auch bei zwei anderen Tech- respektive Digitalkonzernen – Meta und Amazon – ist es zu Massenentlassungen gekommen. Weshalb eigentlich? Liegt es einzig am Einbruch der Werbeeinnahmen aufgrund der geopolitischen Weltlage?
Nicht nur: Meta wollte die Aktionäre beruhigen und dem Zerfall von Mark Zuckerbergs Vermögen entgegenwirken. Bei Amazon gehen die Entlassungen auf Kosten der Sprachassistentin Alexa. Sie und die vernetzten Echo-Lautsprecher haben die Erwartungen nicht erfüllt, weil sie in ihren Möglichkeiten sehr beschränkt geblieben sind. Angesichts des Hypes um den Chatbot ChatGPT, der am Ende dieses Jahres für einen riesigen Hype gesorgt hat, frage ich mich allerdings, ob das nicht voreilig war.

Ein weiteres grosses Digitalthema dieses Jahres ist das Metaverse. Viele Unternehmen sind auf den Zug aufgesprungen, haben einen Standort in dieser digital-interaktiven Umgebung geschaffen oder bieten ihre Produkte dort oder als NFT an. Ein Anzeichen, dass das Metaverse mehr als ein Hype ist?
Nein. Beides sind Hypes, die derzeit keinerlei praktischen Nutzen haben – die Non-Fungible Tokens kann man immerhin als lustiges Accessoire betrachten, wenn man sich zur digitalen Bohème zählt, aber ich würde Unternehmen davon abraten, ihr Geld im Metaversum zu verbrennen.

«Bevor wir uns von unserer Euphorie übers Metaversum übermannen lassen, sollten wir eine ernsthafte Diskussion über den Datenschutz führen»

Was ich nicht ganz nachvollziehen kann: VR- oder AR-Brillen gibt es seit längerer Zeit, weshalb hat das Metaverse erst 2022 den Durchbruch erlebt?
Ich sehe nicht, dass das Metaversum 2022 den Durchbruch erlebt hätte: Ich kenne niemanden, für den es nur ansatzweise relevant wäre – noch nicht einmal für uns Computerjournalisten, die wir 2022 genügend andere Themen zu besprechen hatten. Die VR-Brillen sind noch Jahre von der Alltagstauglichkeit entfernt: Sie sind zu schwer, zu teuer, zu langsam, die Batterielaufzeit ist zu kurz und die Software bewegt sich auf dem Stand eines rudimentären Prototyps. Und für das grösste Problem ist meines Erachtens noch überhaupt keine Lösung in Sicht: nämlich das Unwohlsein, das viele Leute befällt, wenn sie sich einen solchen Helm überstülpen und komplett von der Umwelt abkapseln.

Ringier-CEO Marc Walder hat an der Jahresmedienkonferenz mit seinem Avatar fürs Metaverse geworben. Müssen Unternehmen diesem Trend wirklich folgen, um nicht abgehängt zu werden?
Nein, müssen sie nicht. Ich glaube zwar, dass wir in fünf oder eher zehn Jahren so etwas wie das Metaversum haben werden. Aber im Moment ist das eine Zukunftsvision, die nicht breit abgestützt ist, sondern von einem einzelnen Unternehmen vorangetrieben wird. Wenn sich ein CEO eines grossen Medienhauses fürs Metaversum in die Bresche wirft, dann stellt er sich in den Dienst von Mark Zuckerberg. Das halte ich für falsch – denn haben wir alle vergessen, welche eklatanten Verfehlungen sich Meta beim Datenschutz geleistet hat?

An was denken Sie?
Wenn wir uns einen Daten-Helm überstülpen, dann lassen wir nicht mehr nur unsere Aktivitäten tracken. Der Betreiber verfolgt dann auch unsere Augenbewegungen, unsere Gefühlszustände und womöglich auch physiologische Reaktionen. Bevor wir uns von unserer Euphorie übers Metaversum übermannen lassen, sollten wir eine ernsthafte Diskussion über den Datenschutz führen. Und ich würde empfehlen abzuwarten, was die anderen Konzerne, Google und vor allem Apple, planen. 2022 hätte bekanntlich auch Apples VR-Brille auf dem Markt erscheinen sollen. Dass weit und breit nichts von ihr zu sehen ist, dürfen wir als Signal werten, dass wir nichts überstürzen müssen.

Welche konkreten Anwendungen des Metaverse haben am meisten Potenzial, sich durchzusetzen?
Ehrlich, ich habe keinen Schimmer. Führen wir uns vor Augen, wie infantil die Avatare bei Meta aussehen: Glauben wir wirklich, dass sich ihre Gegenwart positiv auf unsere Effizienz, Produktivität oder Kreativität auswirken würde? Ich würde darauf tippen, dass sich die alte Regel bewahrheitet, dass es oft die Pornografie ist, die die Verbreitung neuer Technologien befördert – aber das passt halt schlecht mit der Prüderie zusammen, die gerade Meta immer wieder an den Tag legt. Etwas möchte ich unbedingt noch festhalten.

Bitte.
Spannend finde ich die Idee eines globalen Dorfes, eine Art digitale Agora, so wie sie sich bei Second Life vielleicht hätte entwickeln können. Aber bevor wir uns dieser Utopie hingeben, sollten wir unsere Lehren aus den Missständen unserer heutigen sozialen Medien ziehen und uns überlegen, mit welchen Mitteln wir Hass, Hetze, Propaganda und Desinformation aus diesem Metaversum fernhalten wollen. Meines Erachtens geht das nur mit einer dezentralen Struktur, mit transparenten Algorithmen und einer unabhängigen Aufsicht.

«Es wird weiterhin Leute geben, die Texte lesen, Podcasts hören und Videos sehen wollen, ohne dass sie dafür eine VR-Brille aufsetzen müssen»

«Das Metaverse ist die nächste Evolutionsstufe des Internets», sagte Daniel Gremli von Bandara in einem persoenlich.com-Interview. Mir scheint das Metaverse etwas zu idealisiert dargestellt zu sein. Sehen Sie nur positive Dinge, die sich durch dieses, gemäss der Marketingbranche Next Big Thing ergeben? Oder sehen Sie auch Gefahren?
Ich widerspreche schon der Ausgangsthese: Ich glaube nicht, dass das Metaversum die nächste Evolutionsstufe des Internets ist. Das impliziert, dass es das bestehende Internet vollständig oder zumindest zu einem grossen Teil ersetzen wird. Das glaube ich nicht, und lassen Sie mich erklären, warum ...

Gerne.
Ich verbringe einen grossen Teil meines Tages im Internet. Ich schreibe Texte, recherchiere Informationen, konsumiere Musik, Podcasts, Hörbücher, Filme und Fernsehserien via Netz. Wenn nun also die nächste Evolutionsstufe gezündet hat, würde ich diese Tätigkeiten alle im Metaversum erledigen? Würde ich mir eine VR-Brille überstülpen, ins Metaversum abtauchen, dort an einen virtuellen Computer sitzen und über eine virtuelle Tastatur meinen Text schreiben? Wohl kaum. Und klar, Sie werden jetzt sagen, dass ich im Metaversum meine journalistischen Erkenntnisse nicht in Textform vermitteln würde, sondern direkt, quasi von Avatar zu Avatar.

Ein Trugschluss?
Nein, zu einem gewissen Teil wird das wahrscheinlich so sein. Aber ich bin überzeugt, dass es weiterhin Leute geben wird, die Texte lesen, Podcasts hören und Videos sehen wollen, ohne dass sie dafür eine VR-Brille aufsetzen müssen. Ich sehe das Metaversum als Ergänzung zum Internet und zum Web – als weitere Anwendung, so, wie während der Pandemie die Videotelefonie als weit verbreitete Nutzungsform dazugekommen ist. Also lassen wir uns nicht beeindrucken, wenn die Marketing-Branche sich beim berühmten Hype-Zyklus von Jackie Fenn gerade auf der steilen Aufwärtskurve befindet: Der Absturz ins Tal der Enttäuschungen wird nicht lange auf sich warten lassen. 

Lassen Sie uns zum Schluss nochmals auf Twitter zurückkommen: Viele Userinnen und User haben den Onlinedienst verlassen. Taugt Mastodon als Alternative?
Das hängt von Ihren Erwartungen ab. Wenn Sie bisher Twitter nutzten, um interessante Leute aus unterschiedlichen Sphären zu treffen und direkt zu interagieren – dann ja. Wenn Sie auf einer globalen Bühne sehen und gesehen werden möchten, dann ist Mastodon diesem Anspruch derzeit nicht gewachsen.

Wenn Sie Musk zum Interview treffen könnten: Was möchten Sie ihn unbedingt fragen?
Warum, zum Teufel, er und Grimes ihren Kindern keine vernünftigen Namen geben konnten.



*Matthias Schüssler ist seit 2000 Digitalredaktor beim Tages-Anzeiger. Seither berichtet er über Tech-Konzerne, Soft- und Hardware. Zudem gibt er Tipps für den Umgang mit Smartphones, Computern und Gadgets. Seit 2018 ist er Mitglied der Mantelredaktion von Tamedia. Nebst seiner Tätigkeit bei Tamedia ist er als Blogger (clickomania.ch), Podcaster (nerdfunk.ch) und Radiomacher (stadtfilter.ch) tätig. 1996 hat er sein Studium in Germanistik, Publizistik und Computerlinguistik an der Universität Zürich abgebrochen.

In der Serie «Das war 2022» greifen wir die grossen Themen des Jahres in kompakter Form nochmals auf. Hier finden Sie die Übersicht.


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KOMMENTARE

Tom Uebersax
15.12.2022 09:40 Uhr
Warum ist die dokumentierte (#TwitterFiles) Einflussnahme der amtierenden US Regierung auf Twitter und die Meinungsfreiheit kein Thema für Mathias Schüssler? Die in der Vergangenheit vorgenommenen gezielten Reichweiten- und Sichtbarkeits-Manipulationen? Oder die dilettantischen, klein gehaltenen Massnahmen der alten Twitter-Führung gegen Kinderpornografie? In allen Fällen wurde Musk sofort aktiv, hat gehandelt und der Kampf gegen Kinderpornografie ist ab sofort oberste Priorität. Ist das keine Zeile wert? Und wieso nicht?
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