07.05.2020

Serie zum Coronavirus

«Der Staat kann nicht alle Risiken tragen»

Folge 37: NZZ-Chefredaktor Eric Gujer hat den Begriff «Seuchensozialismus» erfunden. Im Interview spricht er ausserdem über die Arbeit des Bundesrats, Kurzarbeit und hohe Klickzahlen.
Serie zum Coronavirus: «Der Staat kann nicht alle Risiken tragen»
«Die NZZ macht keinen Konzernjournalismus. Ich wäre froh, alle Schweizer Medienhäuser könnten das von sich sagen», so Gujer im Interview. (Bild: Karin Hofer/NZZ)

Herr Gujer, Sie haben einen Begriff dieser Krise geprägt: «Seuchen-Sozialismus». Was verstehen Sie darunter?
Er ist die pointierte Zusammenfassung liberaler Politik in der Pandemie. Kurzarbeitergeld und andere Hilfsleistungen sind richtig, aber die Selbstverantwortung der Unternehmen wie der Individuen bleibt genauso wichtig. Der Staat kann nicht alle Risiken übernehmen, damit würde er sich überfordern und sich damit letzten Endes selbst in Frage stellen, etwa wenn er vor lauter Schulden handlungsunfähig wird.

Der Begriff stiess auf heftige Kritik, unter anderem, weil die NZZ selber Kurzarbeit macht. Erkennen Sie darin einen Widerspruch?
Kurzarbeitgeld ist eine Versicherungsleistung, und die steht Arbeitnehmenden der NZZ genauso zu wie anderen Arbeitnehmenden. Im Übrigen zeigt die Debatte doch sehr schön, dass die Redaktion unabhängig ist von den ökonomischen Erwägungen der Mediengruppe. Die NZZ macht keinen Konzernjournalismus. Ich wäre froh, alle Schweizer Medienhäuser könnten das von sich sagen.

«Der Bundesrat hat sich vergleichbar geschlagen wie die Regierungen in Wien und Berlin»

Wie beurteilen Sie unsere Regierung während dieser Krise?
Der Bundesrat hat sich vergleichbar geschlagen wie die Regierungen in Wien und Berlin. Zögerlich am Anfang, beherzt auf dem Höhepunkt der Krise, etwas zu vorsichtig in der Lockerung. Ich habe den Eindruck, der Bundesrat wollte in seiner Öffnungstrategie jedem Einzelfall gerecht werden. Weil das nicht möglich ist, musste er in manchen Fällen nachbessern. Die Regierungen hätten stärker darauf vertrauen können, dass die Gesellschaft mit ihrer Freiheit verantwortungsvoll umgeht.

Was hätte man anders machen müssen?
Der Bundesrat hätte die Risikostudie seines eigenen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz aus dem Jahr 2015 lesen können, in der als zweitgrösstes Risiko für die Schweiz eine Pandemie mit einem Schadensvolumen von 80 Milliarden Franken genannt wird. Man hätte also das Zeitfenster nach den ersten Fällen in Wuhan nützen und beispielsweise die Vorräte für medizinisches Schutzmaterial aufstocken können. Dann wäre uns die Debatte um die Wirkung von Masken erspart geblieben, die viele Menschen verunsichert hat. Aber natürlich, am Schluss ist man immer klüger und es heisst: hätte, hätte, Fahrradkette.

Wie haben Sie die letzten beiden Monate verbracht? Wie war das Arbeiten?
Als langjähriger Auslandkorrespondent bin ich das Arbeiten in den eigenen vier Wänden gewohnt. Also kein Lagerkoller, eher gelegentliches Erstaunen, wie professionell und gut die Redaktion unter den erschwerten Bedingungen arbeitet.

Wann kehrt die Redaktion zurück?
Auch das handhaben wir möglichst liberal. Unsere Corona-Taskforce arbeitet gerade Regelungen dazu aus, die allerdings mehr Leitplanken für die einzelnen Bereiche als strikte Vorgaben sind. Grundsätzlich gilt: Alle, die ohne Beeinträchtigung von zuhause aus arbeiten können, sollen dies weiterhin tun. Dabei sind Eigenverantwortung und individuelle Freiheit wichtig. Soweit es die Betriebsabläufe zulassen und die Hygienevorgaben eingehalten werden können, muss jeder selbst entscheiden, was für ihn vernünftig ist – in Absprache mit seinem Team. Kolleginnen und Kollegen, die einer Risikogruppe angehören, empfehlen wir klar die Homeoffice-Variante. Andere werden schneller zurückkehren, weil sie ungeduldiger sind – es kommt also teilweise auf den Einzelfall an. Wir müssen schauen, wie wir die unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut bringen. Die Arbeit in Redaktionen lässt dafür Spielraum.

Im März erreichten Sie auf nzz.ch mit 8,7 Millionen Benutzer einen absoluten Rekordwert und überholten sogar 20min.ch und blick.ch. Was haben Sie besser gemacht als die anderen?
Die NZZ hat ihre traditionellen Stärken ausgespielt: nüchterne Berichterstattung, sachliche Information ohne Übertreibungen, kombiniert mit klaren Meinungen. In der Krise setzt sich offenkundig Qualitätsjournalismus durch. Die Leser und Leserinnen suchen Medien, denen sie vertrauen können. Ausserdem hat sich ausgezahlt, dass wir konsequenter als andere die Digitalisierung vorangetrieben haben. NZZ Visuals – besonders die Kollegen in Grafik und Datenjournalismus – haben Massstäbe gesetzt, wie man verantwortungsvoll und zugleich kritisch mit Rohdaten umgeht. Wir haben frühzeitig auf die entsprechenden Mängel im Bundesamt für Gesundheit hingewiesen.

Gibt es ein journalistisches NZZ-Prinzip?
Unser Prinzip lautet: Journalismus, der bewegt. Wir wollen unsere Kunden zum Nachdenken und auch zum Widerspruch anregen. Wir wollen, dass man gelesen haben muss, was in der NZZ steht. Die von Ihnen zitierten Zahlen zeigen, dass dieses Rezept ankommt.

«Aus diesem Sachverhalt haben wir nie ein Geheimnis gemacht»

Nun soll es gemäss SonntagsZeitung zu einem Stellenabbau bei der NZZ kommen. Wo soll dieser durchgeführt werden?
Felix Graf hat frühzeitig und sehr ehrlich kommuniziert, dass aus strukturellen Gründen Entlassungen nicht ausgeschlossen werden können. Aus diesem Sachverhalt haben wir nie ein Geheimnis gemacht. Was das konkret bedeutet, ist allerdings noch nicht entschieden.

Sie sind studierter Historiker. Wird diese Krise unsere Welt nachhaltig verändern und wenn ja wie?
Meine Sorge ist, dass wir uns an einem Tipping Point befinden. In der Finanzkrise 2008 haben die Zentralbanken die Welt mit Geld geflutet, nun wenden sie die Methode erneut an. Das bedeutet, dass es sehr viele schlechte Schuldner gibt, Staaten wie Unternehmen. Die finanzielle Situation von Italien wird sich zuspitzen, was für die Euro-Zone und die EU ein erhebliches Risiko bedeutet. Auch die globale Machtverteilung kann sich sehr nachteilig verändern. China ist mit einer rigorosen Politik relativ gut durch die Pandemie gekommen, es fährt seine Wirtschaft wieder hoch. Die USA hinken erheblich hinterher, und in Washington fürchtet man nicht grundlos, dass sich die Momentaufnahme verfestigt. Corona heizt die Rivalität zwischen China und den USA weiter an mit negativen Folgen für die Globalisierung – und eine geschwächte EU sitzt zwischen allen Stühlen. In diesem Szenario ist das Exportland Schweiz nicht der lachende Vierte, im Gegenteil.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Tage?
Es ist ein Nicht-Ereignis, nämlich dass uns in der Schweiz Bilder wie in den Spitälern in Bergamo oder New York erspart geblieben sind. Da bleibt ein Gefühl grosser Dankbarkeit. Bei aller Erleichterung dürfen wir aber nicht aufhören, das kritische Denken zu pflegen. Denn das ist die Essenz von Journalismus: gerade in der existenziellen Krise müssen die Handlungen offizieller Stellen hinterfragt und kommentiert werden.



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier

 

 


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