26.04.2017

Peter Gysling

«Schnelligkeit allein ersetzt keinen guten Journalismus»

Der langjährige Ausland-Korrespondent hat ein Buch über seine Zeit in Russland geschrieben. Im Interview mit persoenlich.com erzählt er, weshalb Facebook und Twitter für seine Arbeit wichtig waren und warum er im Vergleich zu den Kollegen Kurt Pelda und Pascal Weber schon fast ein «Schreibtischtäter» war.
Peter Gysling: «Schnelligkeit allein ersetzt keinen guten Journalismus»
Fürs Radio: Peter Gysling interviewt die chinesische Bauunternehmerin Li Hua in der russischen Grenzstadt Blagoweschtschensk. (Bild: zVg.)
von Tim Frei

Herr Gysling*, Sie berichteten als Ausland-Korrespondent über schwere Krisen – zum Beispiel über den Karabachkrieg 2008. Gehen Sie gerne Risiken ein?
Nein, dieser Eindruck ist falsch. Ich bin kein Abenteurer. Bei einer solch langen Korrespondententätigkeit liegt es aber auf der Hand, dass man auch mal in heikle Situationen gerät. Diesen bin ich aber eher ausgewichen. Im Vergleich zu meinen Kollegen Kurt Pelda und Pascal Weber war ich schon fast ein «Schreibtischtäter». (schmunzelt)

In Ihrem Buch «Andere Welten»* schreiben Sie im Kapitel über den Bürgerkrieg in Südossetien, wie Sie 1992 entgegen dem Ratschlag der Heimredaktion ins Zentrum des Krieges, in die umkämpfte Stadt Zchinvali geflogen sind und dort eben doch in eine heikle Situation geraten sind.
Ich war allerdings nicht alleine: Mehrere Journalisten – unter anderem ein sonst zurückhaltender Journalist der Deutschen Presseagentur – befanden sich ebenfalls auf diesem Flug. Es war damals meine Entscheidung. Daher war für mich klar: Wäre mir etwas zugestossen, wäre das alleine meine eigene Verantwortung gewesen – und nicht jene der beauftragenden Redaktion.

Dachten Sie damals, dass die Redaktion in der Schweiz die Lage nicht richtig beurteilen könne?
Nein, überhaupt nicht. Aber es gab zu dieser Zeit einige Bürgerkriege in der Region, so dass die meisten Menschen müde von solchen Meldungen waren. Als Konsequenz berichteten die meisten Medien beispielsweise kaum über den Konflikt im georgischen Südossetien. Ich stufte diesen jedoch als Ereignis von öffentlichem Interesse ein, das man nicht ignorieren durfte, und ich fand es sinnvoll, mir möglichst direkt vor Ort ein Bild der Situation zu machen.

Hatten Sie nie Angst, dass Ihnen etwas passieren könnte?
Ich hatte stets Respekt vor kritischen Situationen. Zudem ging ich immer sehr vorsichtig vor, weshalb mir wohl auch nie etwas zugestossen ist. Von offizieller Seite fühlte ich mich übrigens kaum je ernsthaft bedroht. Problematisch aber war manchmal der Direktkontakt mit lokalen Bürgerwehren oder mit Betrunkenen. Hier half mir meist ein geschicktes Mass an Diplomatie.

Ihre Berichterstattung in Südossetien sehen Sie auch selbstkritisch. Inwiefern?
Einerseits war die erwähnte Berichterstattung gerechtfertigt. Wir sind damals aber gewissermassen auch Geiseln der Südosseten geworden. Unser Helikopter hätte vielleicht ohne grössere Probleme am gleichen Tag zurückfliegen können. Man sagte uns aber, der Rückflug am gleichen Tag sei zu gefährlich. So mussten wir dort übernachten und hörten in dieser Nacht immer wieder Schüsse von beiden Lagern. Dieses Erlebnis hat unsere Berichterstattung gewiss beeinflusst. Ich vermute daher, dass uns die Südosseten auch ein Stück weit zu Propagandazwecken missbrauchen wollten.

Mussten Sie auch mit propagandaähnlichen Informationen umgehen?
Ja, dazu gibt es ein Beispiel. Beim Georgien-Krieg 2008 berichteten mehrere Medien, die Stadt Gori sei von den Russen dem Erdboden gleichgemacht worden. Bei einem Besuch vor Ort sah ich aber, dass die Stadt vom Kriegsgeschehen weitgehend verschont geblieben war.

Gab es zwischen den Korrespondenten eine Zusammenarbeit oder sah man sich eher als Konkurrenten?
Korrespondenten pflegen in der Regel ein gutes Netzwerk untereinander. Wir konkurrenzierten uns nicht wie viele Leute denken, sondern unterstützten uns gegenseitig. Man erfuhr beispielsweise oft von einem Kollegen, wenn irgendwo Gefahr lauerte. Dabei war es sehr hilfreich auf Facebook oder Twitter zu sein, die uns auch diesbezüglich als Kommunikations-Plattform dienten.

Haben Sie dieses Korrespondenten-Netzwerk auch zur Überprüfung von Fakten genutzt?
Ja, wir haben uns regelmässig ausgetauscht, Informationen gegengecheckt. Davon haben unsere Geschichten und Artikel nur profitiert. Ich war aber nicht der Korrespondent, der sich jeden Tag mit einem Kollegen auf ein Bier getroffen hat.

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Dank dem technologischen Wandel konnten Sie bei Ihrem zweiten Engagement in Russland ab 2008 schneller kommunizieren. Sie sehen darin aber auch eine Gefahr für den Journalismus. Worin?
Die neuen Technologien erleichterten mir die Arbeit enorm. Für einen guten Journalismus braucht es aber auch die Einordnung der Ereignisse. Schnelligkeit allein ersetzt keinen guten Journalismus. Die Ereignisse, über die berichtet wird, sollten auch journalistisch eingeordnet werden.

Ein weiteres journalistisches Anliegen war Ihnen, vor Ort möglichst realitätsnah zu berichten.
Journalisten sollten generell möglichst oft rausgehen. Wichtig ist mir aber auch, dass man dabei ersichtlich macht, aus welcher Perspektive man berichtet.

In der Türkei sind die Bedingungen für Medienschaffende sehr schwierig – mehrere Journalisten wie beispielsweise der Deutsch-Türke Deniz Yücel werden von der Regierung in Gefängnissen festgehalten (personelich.com berichtete). Wie schätzen Sie die Lage aus der Distanz ein?
Sehr schwierig. Während meinem Engagement in Russland sprang ich mal für kurze Zeit als Türkei-Korrespondent ein. Dabei habe ich mich eher unwohl gefühlt. Vor den jetzigen Ausland-Korrespondenten am Bosporus, die der Willkür ausgesetzt sind, habe ich deshalb grossen Respekt.

Dann würden Sie, wenn Sie jetzt noch Korrespondent wären, ein Engagement in der Türkei ablehnen?
Nein, ich würde einer solchen Verpflichtung ohne Wenn und Aber nachkommen. Aus publizistischem Pflichtgefühl. Aber ich bin froh, derzeit nicht Türkei-Korrespondent zu sein.

Können wir aus der Schweiz oder Deutschland irgendetwas gegen diese Zustände in der Türkei ausrichten?
Diesbezüglich dürfen wir unsere Möglichkeiten nicht überschätzen. Institutionen wie der Europarat oder die UNO sind zwar wichtig. Wir sollten deren Möglichkeiten nutzen. Aber ich glaube nicht, dass sich der türkische Präsident Erdogan durch irgendeine Protestnote dieser Institutionen stark beeindrucken lässt.

In Schweizer Redaktionen wurden in der letzten Zeit viele Ausland-Korrespondentenstellen abgebaut. Was halten Sie davon?
Das bedaure ich sehr, denn weniger Berichterstattung erzeugt weniger Interesse. Während das SRF und die «Neue Zürcher Zeitung» weiterhin eine grosse Anzahl eigener Ausland-Korrespondenten haben, fand beispielsweise beim «Tages-Anzeiger» ein Abbau statt. Bei einem profitablen Medienhaus, das sich mehr Auslandskorrespondenten leisten könnte, verstehe ich dies nicht.

Der «Tages-Anzeiger» kooperiert mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) im Rahmen eines Korrespondentennetzwerkes (persoenlich.com berichtete).
Ja, aber im Vergleich zu Tagi-Artikeln sind jene der SZ viel länger. Diese von einem SZ-Korrespondenten verfassten Artikel von Zürich aus zu kürzen, ist wahrscheinlich nicht immer ganz einfach.

Haben wir bezüglich der Auslandberichterstattung ein Nachwuchs-Problem?
Nein, das glaube ich nicht. Jeder Korrespondent wird Ihnen bestätigen, dass dies letztlich ein Traumjob ist. Er ist allerdings sehr fordernd. Geändert hat sich aber Folgendes: Im Vergleich zu meiner Generation, in der man im Beruf bereit war – wie ein Hausarzt – von morgens bis abends und sieben Tage in der Woche rund um die Uhr verfügbar zu sein, sind heutige Journalisten vielleicht etwas weniger bereit, auf gewisse Freizeitpräferenzen zu verzichten.

Die NZZ hat erst kürzlich die Inlandkorrespondenten abgeschafft (persoenlich.com berichtete).
Das ist aus staatspolitischer Perspektive bedauerlich: Für die Medienkonsumenten scheint es mir zentral zu sein, dass sie auf möglichst gut nachvollziehbare Informationen aus allen Regionen der Schweiz zurückgreifen können. Es scheint mir wenig optimal zu sein, wenn beispielsweise der Tessinkorrespondent von Zürich aus berichten muss.

Sie schildern Ihre Erlebnisse in Ihrem Buch mit grosser Betroffenheit. Haben Sie bei Ihrer Tätigkeit die journalistische Distanz immer wahren können?
Ja, ich glaube, dass ich diese immer gewahrt habe. Es gab aber Momente, in denen ich mir die Sinnfrage gestellt habe: Wäre es manchmal nicht besser einen anderen Job zu haben, um beispielsweise einer Person als Sanitäter oder Notarzt helfen zu können?

Mit dem russischen Dissidenten und Menschenrechtler Sergei Kowaljow haben Sie mehrmals geredet. Sie schreiben am Schluss Ihres Buches, dass Sie dabei oft Mühe bekundeten, Ihre Tränen zu unterdrücken. Weshalb?
Wenn Sie mit jemandem ein Gespräch führen, der in einem sowjetischen Straflager interniert war und immer wieder drangsaliert wurde, berührt dies. Kowaljow hat mich dermassen bewegt, dass ich vor meiner Pensionierung noch unbedingt ein Interview mit ihm machen wollte.


Peter Gysling*
Während über 30 Jahren wirkte Peter Gysling in verschiedenen Funktionen beim Schweizer Radio und Fernsehen. Er startete als Regional- und Inlandradioredaktor seine Laufbahn. Von 1986 bis 1990 war er als Auslandkorrespondent in Bonn tätig. Die folgenden vier Jahre arbeitete er als Radiokorrespondent in Moskau. Von 1995 bis 2007 wirkte er unter anderem als Auslandreporter und Tagesschauproduzent beim Schweizer Fernsehen, später als Leiter des Bereichs «Wortprogramme» und stellvertretender Programmchef von Schweizer Radio DRS 2. Von 2008 bis 2015 berichtete Gysling erneut als Auslandkorrespondent aus Russland, Weissrussland, Moldawien, der Ukraine, dem Kaukasus und Zentralasien – hauptsächlich fürs Radio sowie in einem Teilpensum fürs Fernsehen. Gysling ist seit 2016 pensioniert.

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«Andere Welten – Begegnungen mit Russland, der Ukraine, dem Kaukasus und Zentralasien»*
Vom Zusammenbruch der Sowjetunion über eine Sonnwendfeier im sibirischen Jakutien bis zum Konflikt in der Ostukraine: Peter Gysling gibt dem Leser einen spannenden Einblick in seine über zehnjährige Korrespondententätigkeit in Russland, im Kaukasus und in Zentralasien. Jedes Kapitel enthält neben Gyslings Erlebnissen auch einen informativen Lexikonteil. «Diese Art der Darstellung – persönlicher Erlebnisbericht, begleitet von nüchternen Fakten-Informationen – war mir sehr wichtig», erklärte er im Interview mit persoenlich.com. Das Buch aus dem Werd & Weber Verlag ist jetzt im Buchhandel erhältlich.

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