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1968 – Finissage

Benedikt Weibel

Das Sein bestimme das Bewusstsein, sagte Karl Marx, und er hatte Recht. Wir sind durch die Epoche geprägt, in welcher wir aufwachsen. Bei mir waren das die Sechzigerjahre, und das war ein besonderes Jahrzehnt. Der Bruch mit den durch die Spätfolgen des Weltkrieges geprägten Fünfzigerjahren war total. Dass von den hundert bedeutendsten Fotos der Geschichte allein siebzehn die Sechziger betreffen, zeigt die Dynamik der Dekade.

1968 ist zu einer Chiffre für das Jahrzehnt geworden, obwohl es nur der Höhepunkt einer längeren Entwicklung war. Das 50-Jahr-Jubiläum war mir Ansporn, ein Buch über diese Zeit zu schreiben und die Ereignisse aus heutiger Sicht einzuordnen.

Nach vielen Lesungen, Podien und der Rezeption unzähliger Schriften lässt sich ein Fazit ziehen. Erstaunlich ist die Polarisierung, mit der die Ereignisse heute noch beurteilt werden. Die einen pflegen die mythische Verklärung, die anderen die Dämonisierung. Beide dieser mit Inbrunst vertretenen Positionen unterliegen fundamentalen Irrtümern.

«Die 68er» ist der immer wiederkehrende Schlüsselbegriff. Er suggeriert eine Homogenität, die es zu keiner Zeit gegeben hat. Die bewegte Jugend dieser Zeit war «gleichzeitig gewaltfrei, gewaltbereit, pazifistisch, bellizistisch, marktgläubig, plangläubig, autoritär, antiautoritär, chauvinistisch, feministisch, maoistisch, trotzkistisch, stalinistisch, spontaneistisch, sozialdemokratisch, liberal...» Ebenso heterogen sind die späteren Lebensläufe der als heute noch als 68er Etikettierten.

Die Wirkungsmacht der 68er wird überschätzt, paradoxerweise von beiden Extrempositionen. Da werden Ursache und Wirkung verwechselt. Auch hier gilt Marx’ Rede von Sein und Bewusstsein. Nicht die 68er haben die Epoche gemacht, die Epoche hat die 68er gemacht. Dass sich die Welt damals in kürzester Zeit fundamental verändert hat, ist eine Tatsache. Nichts illustriert das besser als die beiden Abstimmungen über das Frauenstimmrecht in der Schweiz. 1959 wurde die Vorlage mit einer Zweidrittel-Mehrheit abgelehnt, 1971 im gleichen Verhältnis angenommen.

Der Aufbruch der Sechzigerjahre hat die Welt offener gemacht, und das ist gut so. Grotesk ist hingegen die unlängst im «Spiegel» publizierte Schlagzeile «Erst mit Angela Merkel haben die 68er vollends ihr Ziel erreicht: gesellschaftliche Hegemonie». Wie wenn diese Bewegung jemals ein Ziel gehabt hätte.

Persönlich habe ich der Epoche einiges zu verdanken. Eine bis heute ungebrochene Neugier. Einen kritischen Blick auf die Phänomene der Macht. Und einen grossen Respekt gegenüber den Menschen, die sich die Hände schmutzig machen. Die Betriebswirtschaftslehre hat es ja nicht einmal geschafft, dafür einen Begriff zu finden.

Über das Verhältnis zum «operativen Personal» räsoniert eine Psychologieprofessorin: «Personen mit hohem Status tendieren dazu, die Leistungen der Untergebenen abzuwerten, diese als Spielball ihrer Manipulationen zu betrachten und deren Bemühungen als durch den eigenen Einfluss determiniert zu sehen.» Von dieser Versuchung hat mich 1968 befreit.


Benedikt Weibel ist Professor für Praktisches Management an der Universität Bern und war langjähriger SBB-Chef. Sein neustes Buch, «Das Jahr der Träume – 1968 und die Welt von heute», handelt von den 1968er-Unruhen und ihren Auswirkungen (NZZ-Verlag).

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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