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Das Betteln um Gnade

Stefan Millius

Eine gedruckte Zeitung ist kein Produkt wie jedes andere. Eine Zeitung bewahrt uns vor Diktatur und Anarchie zugleich. Sie festigt die Demokratie. Sie ist der Hort der Meinungsfreiheit. Ohne sie sind wir alle der völligen Willkür ausgeliefert.

Ob das stimmt, bleibt offen. Es gibt aber Leute, die das glauben beziehungsweise behaupten. In erster Linie sind das die Leute, die gedruckte Zeitungen machen.

Kurz vor Jahresende hat uns der Chefredaktor des «St. Galler Tagblatt» in einem aufrüttelnden Leitartikel erklärt, wie unabdingbar sein Produkt und andere regionalen Medien für uns alle sind. Und dass sie dennoch nahe am Abgrund stehen. Seltsam eigentlich. Denn laut Studien sei «die gedruckte Presse für den Meinungsbildungsprozess in der demokratischen Gesellschaft» nach wie vor relevant. Und an diesen Studien vorbei wagen es Inserenten, woanders zu inserieren, und die Leserschaft traut sich, etwas anderes zu lesen. Was für eine Kundschaft, die sich nicht an Studien hält! Die Nachfrage ist gross, aber keiner nutzt sie: Betriebswirtschafter aller Welt reiben sich die Schläfen.

Aber dann die Auflösung. Der Feind ist schliesslich doch noch gefunden. Wir geben dem Chefredaktor das Wort: «Das Internet hat das Geschäftsmodell der Presse zerstört». Erleichterung: Da haben wir den Übeltäter. Aber es kommt noch schlimmer: Besagte gedruckte Presse kann sich dieses Internet selber nicht einmal zunutze machen, denn, so heisst es weiter in dem Leitartikel, «die Erschliessung neuer Ertragsquellen – etwa im digitalen Bereich – entpuppt sich als mühsames Stückwerk.» Und wir dachten immer, neue Ertragsquellen zu erschliessen sei ein Kinderspiel.

Das ist nun in der Tat die Höhe: Ein bisher funktionierendes Geschäftsmodell wird von einer neuen Technologie bedrängt, und es ist mühsam, sich diese Technologie selbst zu eigen zu machen. Das gibt es sonst in keiner Branche. Man stelle sich beispielsweise vor, klassische Filmrollen für Kameras würden plötzlich abgelöst von, sagen wir mal, digitaler Fotografie, falls so etwas technisch jemals möglich sein sollte. Und selbst wird man als Hersteller von Filmrollen von unbekannten Kräften daran gehindert, digitale Kameras herzustellen. Oder was, wenn eines Tages das Festnetz durch kabellose Telefone abgelöst würde? Das ist natürlich reine Fiktion, aber wäre es so: Wirklich ärgerlich.

In den meisten Branchen würde man sich in dieser Situation fragen, wie man den Lead wieder übernimmt. Regionalzeitungen haben ja in aller Regel einen unschätzbaren Vorteil: Ihr Netz an lokalen Redaktionen und Korrespondenten ist dicht gesponnen, ein Vorsprung, den kaum jemand aus dem Stand aufholen kann. Das Problem scheint also nicht eine Frage des Inhalts, sondern der Aufbereitung und der Verbreitung zu sein. Und weil es früher mit der Lieferung von abonnierten Zeitungen in die Briefkästen so wunderbar geklappt hat, ist es natürlich denkbar mühsam, dass man sich nun neu orientieren muss.

Fassen wir zusammen: Gedruckte Zeitungen waren früher eine Goldgrube, dann kam das böse Internet, und die Macher der gedruckten Zeitungen kriegen das mit dem Internet irgendwie nicht so richtig hin. Was heisst, dass das Internet der Täter und die gedruckten Zeitungen das Opfer sind. Wir greifen schniefend zum Taschentuch.

Und nun zum grossen Finale. Wer sein Geschäftsmodell nicht überarbeiten kann oder will, dem bleibt nur eines: An die Ehre der Kunden appellieren. Im besagten Leitartikel findet sich deshalb ein Schlusssatz, der eine Mischung aus Bitte, Aufforderung und Schuldzuweisung bildet. Er richtet sich an die Leserinnen und Leser und lautet: «Sind Sie bereit, für unabhängige Medien einen Preis zu bezahlen – auch digital?» Oder anders ausgedrückt: Wenn schon dieses verdammte Internet, dann bitte mit uns.

Wir warten gebannt auf den Moment, in dem jedem Nichtabonnenten einer gedruckten Zeitung oder ihres digitalen Ablegers aktiv vorgeworfen wird, Diktatur oder (wahlweise) Anarchie zu unterstützen. Denn wer hier spart, der sabotiert wissentlich das, was im Leitartikel reichlich dramatisch als «Dreh- und Angelpunkt der öffentlichen Debatte» bezeichnet wird.

Damit niemand den Schlaf verliert, hier die Beruhigungspille: Es war nie so viel öffentliche Debatte wie heute. Trotz des Internets, das alles zerstört. Die Demokratie ist nicht gefährdet. Gefährdet sind nur diejenigen, die uns jahrzehntelang erklärt haben, dass sie der Pfeiler dieser Demokratie sind – und damit viel Geld verdient haben. Und die nun staunend zuschauen müssen, dass es auch ohne sie geht.



Stefan Millius ist geschäftsführender Partner der Kommunikationsagentur Insomnia GmbH und der Ostschweizer Medien GmbH in St. Gallen.

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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Kommentare

  • René Zeyer, 05.01.2019 00:16 Uhr
    Grossartig auf den Punkt gebracht. Es ist nicht das Internet, es ist die beispiellose Unfähigkeit der Teppichetage in den Printmedien. Als einzige Lösung ist ihnen bisher eingefallen: Die sogenannten Qualitätszeitungen zu Tode sparen und mit Einheitssauce aus Zentralredaktionen abfüllen. Wenn brüllende Dummheit brüllen würde, wäre es ziemlich laut in den Chefetagen der Verlage.
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