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Das ganze Bild zeigen

Marlis Prinzing

Die Berichterstattung über Mesut Özils Rückzug aus der deutschen Fussballnationalmannschaft liefert brandaktuelle Belege: Journalismus muss besser werden. Und nur indem Medien ihre Integrationsfunktion wahrnehmen, lässt sich die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft steigern.

Wo immer sich zurzeit in Deutschland Leute treffen, kommt früher oder später das Gespräch auf den gleichen Themenmix: Özil, Fussball, Rassismus, Integration, Türken, Deutsche, Deutschtürken, «die» Medien – und letztlich auf eine unsägliche Geschichte, an der vieles verstört, irritiert, verblüfft. Das Gute daran: Gerade das liefert einen starken Impuls, über manches neu nachzudenken, nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in der Schweiz. Dort erlebten wir eine teilweise vergleichbare Debatte: Die aus dem Kosovo stammenden Nationalspieler Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka (sowie auch Stephan Lichtsteiner) provozierten im Spiel gegen Serbien deren Fans, indem sie ihnen das grossalbanische «Doppeladler-Symbol» als Zeichen ihres Triumphs entgegenstreckten. So unterschiedlich die Kontexte sind, das Kernthema ist vergleichbar: Wie national muss eine Nationalmannschaft sein? Wie schweizerisch, wie deutsch sind Menschen mit Migrationshintergrund? Gibt es überhaupt einen Zwang, sich zu nur einer einzigen Heimat zu bekennen? Wie steht es um die Integration? Wie thematisieren Medien die Herausforderungen und das Leben zwischen verschiedenerlei Prägungen?

Rückblende: Berlin 2010, Länderspiel Deutschland gegen die Türkei. War der Gelsenkirchener Mesut Özil in Ballbesitz, gab es Pfiffe von den Fans des türkischen Teams, unter denen auch viele Deutschtürken waren. Als der damals 21-Jährige ein Tor schoss, sparte er sich den Jubel, wohl, um nicht weiter zu provozieren. Die Türkei hatte lange um ihn geworben, er entschied sich für das deutsche Nationalmannschaftstrikot. Auf der Ehrentribüne sassen Recep Tayip Erdogan und Angela Merkel. Die deutsche Regierungschefin betrieb anschliessend symbolische Politik erster Güte, indem sie Özil, einen Fotografen an ihrer Seite, in der Kabine zum 3:0-Sieg gratulierte – und zugleich eigentlich auch Deutschland zu einer modernen und offenen Gesellschaft, zu deren Botschaftern und Vorbildern fussballbegabte junge Männer mit türkischen Wurzeln prima taugten. Nun, acht Jahre später, wurde wieder letztlich ein Foto zum Symbol der aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeit in Deutschland (und nicht nur dort): Das Bild mit Ilkay Gündogan und Mesut Özil, zwei deutschen Fussballstars mit türkischen Wurzeln, mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, geschossen im Mai dieses Jahres bei einem Event in einem Londoner Hotel – kurz vor der WM in Russland, kurz vor den Wahlen in der Türkei. Es löste Stürme der Entrüstung aus. Der Wirbel hätte sich sicher mildern lassen, wenn viele – Fussballverband, Bundestrainer, Özil – früher geredet hätten. Beispielsweise so wie Gündogan. Dieser erklärte bereits im Trainingslager im Juni in Südtirol gegenüber Medienvertretern, er schätze die Meinungsfreiheit, und er schätze es, in dem Land zu leben, für dessen Nationalmannschaft er starte. Entschärft hätte auch, wenn mancher beispielsweise auf abenteuerliche Kausalzusammenhänge mit dem Scheitern Deutschlands bei der WM verzichtet hätte und  darauf, Özil ungeachtet seiner im Teamvergleich zudem respektablen sportlichen Leistung in Russland zum hauptverantwortlichen Sündenbock für das Ausscheiden zu machen.

Das Positive einer (vorsichtig ausgedrückt) gedankenlosen Foto-Aktion ist, dass sie einen Vorhang zur Seite riss, der mittlerweile offenbar in mancher europäischen Gesellschaft vorhandene Gräben verdeckte und eine überfällige Diskussion unübersehbar macht: Wie gelingt multikulturelles Zusammenleben, und welche Rolle hat Journalismus dabei? Deshalb soll hier auch nicht der Inhalt von Özils Ankündigung, nicht mehr im deutschen Nationaltrikot zu spielen, solange er «das Gefühl habe, rassistisch angefeindet und nicht respektiert zu werden» diskutiert werden, sondern an zwei Beispielen das, was die Reaktionen auf diese Begründung widerspiegeln.

Erstens: Die Art, wie die deutsche «Bild»-Zeitung Özil an den Pranger stellt («Jammer-Rücktritt», «Starrsinn pur», «pures Selbstmitleid», Weltbild «gefährlich nah an Erdogan»), illustriert, wie manche (nicht alle!) Medien bei sensiblen Themen rasch ihre journalistische Sorgfaltspflicht und Professionalität vernachlässigen – hier, indem sie Stimmung machten, ja, aufhetzten. Der Historiker und Publizist Michael Wolfssohn brachte es als «Bild»-Kommentator auf einen bemerkenswerten Punkt: Özil sei undankbar, so und mit solchen Gründen zurückzutreten. Hier mit Undankbarkeit zu argumentieren, entlarvt. Träfe dies zu, dann gäbe es «richtige» Deutsche und eine Art «Deutsche auf Bewährung», die immer ein bisschen unterwürfig sein sollen. Derlei Stimmungsmache widerspricht den sozialen Funktionen, die verantwortungsbewusst und professionell arbeitenden Medien gerade in demokratischen Gesellschaften aufgetragen sind: Die Art, wie sie berichten, soll in einer Gesellschaft bestehenden oder gärenden Problemen Gehör schenken und zum gesellschaftlichen Frieden beitragen.

Wie sehr dies offenbar vernachlässigt wurde, belegt das zweite Beispiel, die Reaktion vieler Deutschtürken auf sozialen Medien. Özil sprach offenbar aus, was viele von ihnen selber fühlen: Sie sehen sich als Opfer, behandelt wie Menschen zweiter Klasse, denen man unterstellt, sich nicht so recht anstrengen, sich nicht so recht integrieren zu wollen; und dies obwohl die Mehrheitsgesellschaft sie zugleich als gar nicht wirklich zugehörig betrachten wolle, sondern von ihnen Dankbarkeit dafür erwarte, dass sie hier leben dürfen. Ein Gefühl, das wohl zu den Erklärungen gehört, weshalb mehr als 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken Erdogan wählen. Das sollte uns wirklich umtreiben, wie auch die ebenfalls unübersehbar gewordene Erkenntnis, dass Zuwanderer und deren Kinder eben nicht nur durch das Land, in dem sie wohnen, geprägt werden, sondern auch durch ihr Elternhaus, und dass dies nicht im Hauruckverfahren durch deutsche Werte ersetzbar ist.

Was nun? Journalisten müssen konsequent auch an die Orte, in die Stadtteile und Regionen gehen, wo sie auf jene Menschen treffen, die frustriert sind, weil sie sich als vergessen, zu kurz gekommen fühlen. Ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, hilft Probleme zu lösen sowie Antworten zu finden auf Fragen wie: Was heisst «richtig dazugehören»? Wer entscheidet darüber? Was muss man dafür tun und was unterlassen? Die aktuelle Debatte offenbart, wie nötig das ist, aber auch, dass noch viel zu tun ist, damit das in Diversity-Arbeitskreisen und Werbestrecken beschriebene Deutschland der Vielfalt und der Toleranz gelebter Alltag wird.

Und letztlich lässt sich so auch veranschaulichen, was professioneller Journalismus in einer offenen Gesellschaft mit einem hohen Grad Medienfreiheit leisten kann: nämlich das ganze Bild zeigen, herausfinden, wie etwas wirklich ist oder sich verändert. Medien in Deutschland (oder in der Schweiz) können die Wirklichkeit zeigen, ohne dass sie wie in der Türkei fürchten müssen, deshalb ins Gefängnis geworfen zu werden.




Marlies Prinzing ist Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia in Köln, Moderatorin, Kolumnistin (Der Tagesspiegel, Der Standard), Buchautorin und Herausgeberin diverser Fachbücher.

Unsere Blog-Autoren vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion. 

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Kommentare

  • Peter Beusch, 02.08.2018 12:56 Uhr
    Die meisten sogenannten Deutschtürken sind nach Deutschland gekommen weil sie hier wesentlich mehr verdienen als in der Türkei alle anderen Tatsachen sind für sie nicht von Belang. Dieser türkische Fussballer hat das deutsche Trikot gewählt weil er damit die Chance hatte Fussballweltmeister zu werden und auch wesentlich mehr zu verdienen. Diese heimatlosen Türken funktionieren wie alle Menschen in dieser Situation , da wo der Futtertrog am besten ist da geht man hin da bringt es nichts von Nationalstolz oder Heimatgefühl zu sprechen. Der Gegensatz dazu wäre ein Bauer der das Land seiner Vorväter bearbeitet dieser wäre weniger bereit nur wegen Geld seine Nationalität zu wechseln. Man sollte nicht versuchen etwas anderes als obige banalen Tatsachen in diese unleidige Geschichte hinein zu interpretieren es braucht auch kein Mitgefühl oder näher gehen zu diesen Menschen die kommen ganz gut mit ihrer Situation und zum Teil auch mit ihren Unehrlichkeiten zu recht.
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