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Digitale Defizite verschärfen die Krise

Renato Gunc

«In dieser ausserordentlichen Zeit ist auch das permanente Geschnatter über das Potenzial der Digitalisierung abgeklungen», schreibt Benedikt Weibel in seiner Kolumne für persoenlich.com. Er hat recht: Die Diskussionen um die Digitalisierung haben im Moment keine Priorität; im Vordergrund stehen die Gesundheit der Menschen und die Zukunft der Wirtschaft, besonders der KMU.

Benedikt Weibel schreibt weiter: «Eine Frage drängt sich in dem Zusammenhang auf: Welche Instrumente der Digitalisierung helfen uns aus der Krise?» Auf diese Frage allerdings gibt gerade der Corona-Notstand deutliche Antworten, und sie fallen ernüchternd aus.

Tatsächlich hat es die Schweiz in «guten» Zeiten verpasst, eine funktionierende digitale Grundinfrastruktur – inklusive digitales Kommunikationsnetzwerk – aufzubauen. Das rächt sich jetzt, in der schwierigen Periode, in mehrfacher Hinsicht, vor allem auch unter dem Gebot des «Social Distancing», das die physische Präsenz von Menschen massiv einschränkt:

1) Weder Parlament noch Behörden noch Firmen sind in der Lage, flächendeckend digital zu operieren. Wenn Arztpraxen ihre Corona-Fälle im digitalen Zeitalter per Fax an das Bundesamt für Gesundheit BAG liefern müssen, haben wir wirklich etwas verpasst. Anderes Beispiel: Die Zahlen der Erkrankten und Verstorbenen der Kantone stimmen nicht mit denen des Bundes überein, weil es keinen standardisierten, automatischen Informationsfluss zwischen Kantonen und dem Bund gibt. Noch ein anderes Beispiel: In der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich müssen Gesuche um Kurzarbeit manuell abgetippt werden, was zu massiven Verzögerungen führt (siehe Tages-Anzeiger vom 1. April).

2) Es ist nicht möglich, dass Behörden Kontakte mit Bürgern über eine gesicherte Maildresse aufnehmen. Jeder hat eine Wohnadresse, aber bei den E-Mails herrscht Wildwuchs. Eine standardisierte gesicherte Mailadresse würde Abhilfe schaffen. Für die digitale Adresse hat Andreas Dummermuth einen originellen Ansatz vorgeschlagen (Dummermuth ist Präsident der Konferenz der kantonalen Ausgleichskassen und Geschäftsleiter der Ausgleichskasse / IV-Stelle Schwyz). Jede natürliche Person in der Schweiz hat eine individuelle AHV-Nummer. Und jede Person könnte eine digitale Adresse aufgrund dieser Nummer erhalten, beispielsweise AHV-Nummer@ahv.ch. Dies wäre ein «einfacher, billiger und technisch unspektakulärer Weg», findet Dummermuth. Eine Behörde, etwa die Zentrale Ausgleichsstelle ZAS, würde diese Mail-Adresse ausstellen und verwalten. Bliebe noch die Verifizierung von Person und Adresse. Aber das wäre kein unüberwindbares Hindernis; schliesslich gibt es heute schon Methoden zur Verifizierung, wie sie Banken oder auch Online-Händler anwenden.

3) Da es noch immer keine standardisierte, allgemein akzeptierte elektronische Identitätskarte (E-ID) gibt, ist es weiterhin schwierig bis ausgeschlossen, gewisse Verträge digital abzuschliessen.

Es trifft wie gesagt zu, dass die Diskussion um die Digitalisierung im Moment keine Priorität hat. Aber wenn die Normalität zurückkehrt, müssen wir uns mit grösserer Intensität und Dringlichkeit, aber selbstverständlich unter Einhaltung strenger Sicherheitsstandards, darum kümmern, gerade auch als Vorbereitung auf eine nächste mögliche Krise.

Auch dank KI-Technologie könnten Informationsauswertungen präzisiert und plausibilisiert werden und als wertvolle Entscheidungshilfen dienen, im konkreten Fall etwa für das BAG. Eine digitale Infrastruktur würde auch Vertragsabschlüsse erleichtern. Digitale Sitzungen würden effizienter und kürzer ausfallen als physische Zusammenkünfte und trügen erst noch zum Umweltschutz bei, weil man nicht für jedes Treffen nach Bern fahren oder nach New York jetten müsste.



Renato Gunc ist Präsident des Vereins eGov Schweiz und Geschäftsleitungsmitglied der Peax AG.

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion. 

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Kommentare

  • Daniel Stucki, 06.04.2020 17:16 Uhr
    Danke Renato für die klaren Worte! Home Office soll die Lösung sein - dabei sind viele gar nicht richtig darauf vorbereitet. Es wurde jahrelang von Digitalisierung gesprochen und geschrieben, aber meistens fehlt es heute noch an brauchbaren Umsetzungsstrategien, insbesondere bei den staatlichen Institutionen. Die Corona-Pandemie zeigt uns jetzt klar auf, was bisher versäumt wurde. Hoffentlich ziehen wir unsere Lehren daraus.
  • Rémy Tzaud, 06.04.2020 14:13 Uhr
    Les crises ont ceci de positif qu'elles remettent les choses en questions. Profitons dès la sortie de la crise pour développer la culture de l'agilité de manière à être plus efficaces et retrouvons la capacité de réaliser le chantier Suisse digitale à l'image de nos anciens qui ont osé faire de grands projets d'infrastructure presque à mains nues !
  • Christoph Glauser, 06.04.2020 11:31 Uhr
    Für eine Bilanz ist es noch viel zu früh. Firmen aus dem Dienstleitungssektor, welche mit der Digitalisierung ernst gemacht haben, können jetzt ziemlich gut weiter arbeiten. Alle anderen haben ein Problem und müssen ihre Mitarbeitenden in die Ferien oder in die Arbeitslosigkeit entlassen. Wenn wir mit der digitalen Signatur nicht so rasch vorwärts kommen, sollte es in zwischen wenigstens allen klar geworden sein, dass man unterzeichnete PDF's endlich für alle Geschäfts- und Behörden-Prozesse gelten lassen sollte. Nach dem Motto: "Klein soll beginnen, was leuchten soll im Vaterlande"...:-) Ich finde die Behörden haben bereits viel Leadership bewiesen und die Digitalisierung wird sogar zu Corona Zeiten im Hintergrund vorangetrieben z.B. beim Zoll. Leider noch nicht überall mit der gleichen Priorität oder Konsequenz. Christoph Glauser, Online-Forscher und Politikwissenschaftler www.ifaa.ch
  • Christoph Beer, 06.04.2020 10:37 Uhr
    Die Digitale Infrastruktur sowie die Digitalen Skills müssen nun konsequent weiter aufgebaut werden. Dies wurde in der aktuellen Krise sehr gut visiblisiert. Ein Vergleich: Die Wasserversorgung, hier wird auch nicht in Frage gestellt, ob es diese braucht, ein kontinuierlicher Ausbau für den Nutzen aller ist Fakt. Schauen wir nach vorne, was uns der/die Beauftragte für die Digitale Verwaltung von Bund und Kantonen zu diesen Themen vorschlagen wird. Wichtig ist, dass die Diskussion verstärkt und das Bildungsangebot intensiviert wird.
  • Milan Vopalka, 04.04.2020 16:13 Uhr
    Bekannte Tatsachen die auch du ansprichst, Renato. Was sind die Learning's aus dem Versagen der Akteure? Was ist der konkret Beitrag der verschiedene Vereine im Gov Umfeld CH und wie können wir konkret unterstützen um zielführende Lösungen zu erreichen für die Schweiz? Lg Milan
  • Stefan Metzger, 04.04.2020 14:08 Uhr
    Auf den Punkt gebracht und nicht abschliessend... Wir stehen gerade an einem Wendepunkt: Förderalistisches Eigenbrötlertum oder gemeinsame Synergien zum Wohle aller! Der Bund muss dringend digitales Leadership entwickeln, sonst füllt Google und Co das Vakuum.
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