30.05.2020

Zürcher Unruhen

«Die Erinnerungen kitten heute noch zusammen»

Die Fotografin Olivia Heussler wurde vor 40 Jahren zur Chronistin der Zürcher Unruhen, die am 30. Mai 1980 ausbrachen. Sie erinnert sich an die Situation damals.
Zürcher Unruhen: «Die Erinnerungen kitten heute noch zusammen»
Tränengaseinsatz vor dem Autonomen Jugendzentrum, 1980. Digital Print on Forex, 76×114 cm. (Bild: Olivia Heussler)
von Matthias Ackeret

Frau Heussler, wann haben Sie erstmals von den Zürcher Unruhen erfahren?
Ich kam am 31. Mai 1980, also ein Tag nach dem Ausbruch der Opernhauskrawalle, aus den Ferien zurück. Im Flugzeug las ich in der NZZ von den Ausschreitungen. Ich machte einen so hohen Sprung, so dass ich mit dem Kopf am Gepäckbord anstiess.

Warum?
Ich fühlte mich bestätigt. Für mich spitzte sich alles schon in den Siebzigern zu. Die alternative Sechseläutenfeier am 21.april 1980 in der Langstrasse, organisiert durch die Umweltgruppe »Luft und Lärm« markierte für mich den Beginn einer breiten Protestbewegung. Jetzt, einige Woche später, explodierte das Fass.

Wie muss man sich das damalige Zürich vorstellen?
Damals herrschte in Zürich die trostlose, graue Zeit des Kalten Krieges. Es gab immer noch keine anständigen Angebote und Räume für Junge, in denen sie sich frei entfalten konnten und es preislich drinlag, längere Zeit zusammenzusitzen. Viele Beizen wie das Maröggli, Tübli, Select Odeon etc. wurden geschlossen und die Jugendlichen weggeschickt. Es gab die Riviera neben dem Bellevue. Diese wurde ein Treffpunkt der Drogenszene. Die Erziehungsheime waren übervoll.

«Die Polizisten beschossen mich regelmässig aus der Nähe mit Gummigeschossen und Tränengaspetarden»

Was wollten Sie mit Ihren Bildern, die Zürich fast schon im Kriegszustand zeigten, bewirken?
Da ich in einer Familie mit sehr sozialer Struktur aufwuchs, war es mir ein grosses Anliegen, dieser Situation ein Ende zu setzen. Ich wohnte in einer Gross-WG. Wir klebten lustige Flugblätter und gestalteten unsere eigenen Medien, oft mit meinen Fotografien. Aber ich arbeitete als Praktikantin auch für den Blick. Die Polizei hat mir keine Presse-Armbinde geben wollen und malträtierte und schikanierte mich andauernd. Die Polizisten beschossen mich regelmässig aus der Nähe mit Gummigeschossen und Tränengaspetarden. Glücklicherweise trug ich keine bleibenden Schäden davon. Ich wurde dadurch auch Zeugin von mehreren Übergriffen der Polizei. Mit den Bildern versuchte ich, an Strafprozessen Jugendliche, die wahllos verhaftet worden waren, zu entlasten. Aber meine Bilder wurden diffamiert. Natürlich gab es auch viel materiellen Schaden, wie eingeschlagene Schaufenster, aber das waren immer Reaktionen auf masslose Verhaftungen. Damals war es Krieg gegen die kreativen Jugendlichen, die gegen das politische Packeis ankämpften. Heute demonstrieren die Jugendlichen mit viel Engagement und Kreativität gegen die Umweltverschmutzung und die Klimaerwärmung.

Gab es für Sie gefährliche Situationen, oder anders gefragt: kamen Sie selber mit dem Gesetz in Konflikt?
Ich habe damals Strafanzeigen gegen die Polizeibeamten eingereicht, denen nicht stattgegeben wurde. Ich bezahlte dann die mir auferlegten Kosten im Centbereichs in x-fachen Raten, um sie zu ärgern. Die vielen positiven Erinnerungen an diese Zeit kitten uns heute noch zusammen. Wir sind mit all den vielen Projekten, die damals aus dem Boden gestampft wurden, gross geworden und wurden nachhaltige Communit. Die Leute kreierten kollektive Gruppen von ÄrztInnen, AnwältInnen, ArchitektInnen, LehrerInnen, FilmerInnen, RadioacherInnen, ZeitungsmacherInnen etc., die bis heute existieren. Das hat mich über diese vierzig Jahre getragen, und ich bekomme heute noch Hilfe für meine Arbeit. Diese Stärke der Gruppe konnte und kann uns heute niemand wegnehmen.    

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Olivia Heussler (* 1957 in Zürich) ist eine unabhängige Schweizer Fotografin. Sie dokumentierte unter anderem die Zürcher Jugendunruhen, der Nicaraguanische Contrakrieg in den 80er Jahren und andere Befreiungsbewegungen. Heussler studierte 1988 an der Fachklasse für Fotografie der Schule für Gestaltung in Zürich als Hospitantin und lebte in den Neunzigerjahren in Paris. In ihren Fotoessays zeigt sie unter anderem Krieg und Frieden in Nicaragua, die Situation in Israel und Palästina, die Kurden in der Türkei wie auch die Menschenrechtslage in Lateinamerika. Ihre Reportagen stammen aus Osteuropa, dem Sudan, Tansania, Honduras, Chile und Pakistan. 

 

 



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