25.10.2019

Volvo Art Session 2019

«Ein Cyborg hat keine Grenzen»

Neil Harbisson ist ein Cyborg. Mit einer Antenne kann er Farben «hören» sowie W-Lan-Signale empfangen. persoenlich.com traf ihn im Rahmen der Volvo Art Session. Wir sprachen mit ihm über Science-Fiction, die Rechte eines Cyborgs und wie man Werbung direkt in den Kopf senden könnte.
Volvo Art Session 2019: «Ein Cyborg hat keine Grenzen»
Die Antenne ist in den Schädel von Neil Harbisson eingepflanzt. Er kann sie weder ausstellen noch ablegen. (Bild: zVg.)
von Loric Lehmann

Herr Harbisson, waren Sie als Kind schon Science-Fiction-Fan?
Nein, ich mag keine Science-Fiction. Die Wahrnehmung von Cyborgs, die man von Filmen kennt, hat nichts mit der Realität zu tun. Ich bin und war schon immer ein Fan der Natur. Daher war ich als Kind schon sehr an Natur-Dokumentationen interessiert. Denn Tiere haben andere Organe und damit andere Sinne als wir Menschen. Der Rüssel der Elefanten ist ein Beispiel. Oder Delfine mit ihrem Unterkiefer, mit dem sie Geräusche wahrnehmen können.

Sie sind im Rahmen der Volvo Art Session hier. Freuen Sie sich auf die Ausstellung?
Ich mag Kunstausstellungen. Bei dieser Veranstaltung kommen viele Kunstrichtungen zusammen. Ich war schon an vielen Veranstaltungen und Orten, die nichts zu tun hatten mit Kunst. Für mich ist das Dasein als Cyborg Kunst. Denn Kunst hat keine Grenzen, keine Regeln. Wie ein Cyborg.

Denken Sie, dass es in Zukunft immer noch eine Kunstform sein wird und nicht einfach alltägliche Technologie, die wir jetzt in Form von Smartphones haben, einfach innerhalb unseres Körpers? 
Es wird Kunst bleiben. Fotos zu machen, ist ja auch eine Kunstform. Gleichzeitig ist es aber auch etwas anderes, praktischeres. Vieles kommt aus der Kunst.

Sie haben eine Organisation gegründet, die mehr Menschen dazu ermutigen möchte, Cyborgs zu werden. Ausserdem kämpfen Sie für die Akzeptanz und Rechte von Cyborgs. Wenn mehr Menschen Cyborgs sind: Leben wir dann in einer besseren Welt?
Das kommt auf den Cyborg und seine Ziele an. Wenn es darum geht, den Planeten weniger stark zu beanspruchen, dann wird die Welt besser. Oder wenn es darum geht, sich selber zu schützen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Schwanz. Dann hätten Sie eine bessere Balance und würden weniger umfallen, was zu weniger Gesundheitskosten führen würde. Oder wenn Sie in der Nacht sehen könnten, bräuchte man weniger Energie für Lichtquellen. Das wäre dann auch gut für die Umwelt.

«Wir werden den Planeten mit Technologie retten»

Ist das nicht ein wenig eine Ausrede, wenn wir sagen, dass wir mehr Technologie brauchen, sodass wir mit unseren Ressourcen umgehen können wie bisher?
Das habe ich so nicht gesagt. Ich sage nur, dass Technologie den Planeten retten wird. Jetzt zerstören wir den Planeten mit Technologie, aber bald werden wir dank dieser den Planeten retten. Wir sind jetzt in dieser Übergangsphase.

Um ein Cyborg zu werden, braucht man natürlich Geld. Nicht alle Menschen werden sich dies leisten können. Führt dies nicht dazu, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich noch grösser werden?
Ich bin nicht reich. Es gibt keine reichen Leute, die Cyborgs sind. Nur arme.

Na gut, da kommt es auf die Definition von Armut an.
Man kann sich ein Gerät in den Kopf einpflanzen lassen für 30 Cents, das es ermöglicht zu fühlen, ob jemand hinter einem steht. Viele künstliche Organe sind günstiger als ein Smartphone. Für 30 Dollar kann man sich auch einen künstlichen Kompass einsetzen lassen, um zu fühlen, wo Norden ist. Es geht nur darum, ob man sich ein Gerät einsetzen lassen will. Reiche Leute wollen so etwas nicht. Die Leute haben nur Angst, Biologie und Technologie verschmelzen zu lassen. Es geht dabei nicht um ökonomische Gründe. Ansonsten gäbe es heute schon viel mehr Cyborgs.

Trotzdem gibt es viele Leute, die sich kein Smartphone leisten können.
Es geht nicht um Geld. Es gibt bereits seit Jahrzenten Sensoren und wir könnten diese uns einfach einpflanzen lassen. In abgelegenen Dörfern in Afrika hat man bereits günstige Smartphones. Es geht nur darum, ob man gewillt ist, seine Haut chirurgisch zu öffnen, etwas einzusetzen und dann wieder zuzunähen. Das Problem ist, dass die Leute so etwas noch total abwegig finden. Gegen diese Vorurteile kämpfe ich mit meiner Organisation.

Sie sagen ein Grossteil der Menschen habe bereits ein Smartphone, das man ja auch als Lichtquelle oder als Kompass nutzen kann. Warum sollten wir solche Geräte in unseren Körper einpflanzen lassen?
Es kommt natürlich darauf an, was man sich einsetzen lassen will. So ein Smartphone einzupflanzen, wäre natürlich kompletter Unsinn. Aber wenn man seine Sinne erweitern lassen will, ist es viel praktischer, sich ein Gerät einsetzen zu lassen, das einem permanent im Alltag hilft.

Natürlich bringt das auch viele Gefahren mit sich. Sie haben in ihrem «Organ» auch einen W-Lan-Empfänger und können so Informationen direkt in Ihrem Kopf empfangen. Dies wird sicherlich für Werbetreibende interessant werden. Was denken Sie darüber?
Klar, das muss unbedingt zum Diskurs werden. Werbung will ja heute schon unsere Aufmerksamkeit auf Produkte oder Dienstleistungen lenken. Heute sind es einfach Plakate oder Werbespots. Bei mir könnte man zum Beispiel eine für mich schöne Melodie durch Farben kreieren: Ich würde dann wissen wollen, woher diese kommt. Vielleicht würde ich dann plötzlich vor einem Coca-Cola-Schild stehen. (Lacht)

Wie können wir uns von solchen Manipulationen schützen?
Wieso sollten wir das wollen? Wir sind ja heute schon so vielen Reizen ausgesetzt. Man wird sich einfach daran gewöhnen müssen. Es würde einen nicht mehr als heute beschäftigen.

Sie sagten, wir sind heute schon vielen Reizen auf unseren fünf Sinnen ausgesetzt. Warum sollte man durch ein künstliches Organ noch mehr ausgesetzt sein wollen? Reicht das noch nicht?
Das hat nichts mit der Anzahl Sinne zu tun. Vielleicht hat man nur einen Sinn und man wird dauernd abgelenkt von irgendetwas. Es geht darum, wie viele Dinge man ausblenden kann. Dafür muss man sein Hirn trainieren. Das musste ich auch als ich plötzlich einen zusätzlichen neuen Sinn hatte.

«Es sollte jedem freistehen, ein Cyborg zu werden»

Ich habe gelesen, dass fünf Ihrer Freunde Ihnen jederzeit Bilder und Informationen auf Ihre Antenne senden können. Wenn sie dies machen, während Sie schlafen: Hat das Einfluss auf Ihre Träume. Das könnte doch für die Werbung sehr attraktiv sein.
Klar, deshalb brauchen wir eben Rechte für Cyborgs. Dafür setzen wir uns in unserer Organisation ein. Wir wollen verschiedene Gesetze einführen. Ein Gesetz besagt, dass jeder selber das Recht hat zu entscheiden, wer Zugang zu seinem Körper hat. Ungewollte Werbung in meinen Kopf zu senden, wäre also ein Verstoss gegen dieses Gesetz und würde belangt werden. Das wäre dann gleichgesetzt wie physische Gewalt. Dafür wird es bald Regulierungen geben.

Was ist das wichtigste Gesetz, das Sie einführen möchten?
Dass wir alle gleichbehandelt werden. Jeder sollte das Recht haben, selber zu entscheiden, ob man seinen Körper modifizieren möchte. Genau wie Transmenschen, die sich für ein anderes Geschlecht entscheiden können, sollte es jedem freistehen, ob man zum Cyborg wird.



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