06.01.2021

Schlüsselrolle in der Pandemie

«Er bezeichnete sich als Linksliberaler»

Alain Berset ist gefordert wie wohl kein anderer Bundesrat: Wie fällt er Entscheide? Lässt er sich von der Taskforce leiten oder von seinem Bauchgefühl? Autor Felix E. Müller hat sich für ein Buch intensiv mit dem Gesundheitsminister beschäftigt.
Schlüsselrolle in der Pandemie: «Er bezeichnete sich als Linksliberaler»
Buchautor Felix E. Müller (rechts) beschäftigte sich intensiv mit der Schlüsselfigur der Schweizer Corona-Krise: Alain Berset. (Bild: Keystone/Anthony Anex)
von Edith Hollenstein

Herr Müller, am Mittwoch wird der Bundesrat über weitere Massnahmen befinden. Was vermuten Sie: Wird es einen temporären starken Shutdown geben, wie dies die Grünen und die GLP fordern?
Meine Vermutung ist, dass der Bundesrat am gegenwärtigen Kurs festhält, aber eine Verlängerung der jetzigen Massnahmen über den 22. Januar hinaus beschliesst.

Eine wichtige Rolle in dieser Sitzung spielt Gesundheitsminister Alain Berset. Was denken Sie, wovon lässt er sich leiten? 
Alain Berset muss als zuständiger Departementschef stets einen Antrag an den Bundesrat stellen. Dieser basiere, sagt er, einerseits auf den Fakten, auf den Aussagen der Experten. Doch sei das politische Bauchgefühl stets mit im Spiel. Der Bundesrat diskutiere jeweils intensiv. Noch keiner seiner Anträge sei unverändert akzeptiert worden, sagt Berset. Dies sieht er positiv, weil so am Ende ein besser abgestützter Entscheid gefällt werde.  

Was für eine Stellung hat Berset als SP-Politiker im Bundesrat, der ja bürgerlich dominiert ist?
Er hat ein grosses Gewicht und ist in Sachen Corona federführend. Aber er kann nicht einfach durchmarschieren. Es gibt ja im Bundesrat drei Fraktionen: die Besorgten, die Nonchalanten und die Pragmatiker. Und dann noch Ignazio Cassis, der völlig auch in Bezug auf Corona ein Irrlicht ist. Berset würde ich zu den Pragmatikern zählen.

«Berset sagt indirekt, es habe schon falsche Entscheide gegeben»

Was ist Ihre Einschätzung: Nimmt der Bundesrat diese vielen Todesopfer in Kauf für die Rettung der Wirtschaft und der AHV, oder handelt er nach bestem Wissen und Gewissen?
Der Bundesrat versucht stets, eine Güterabwägung zwischen dem Schutz der Bevölkerung und dem Schutz der Wirtschaft vorzunehmen. Berset sagt, in einer Krise gebe es zuerst das Problem, allen klar zu machen, dass es sich um eine Krise handle. Und danach, in einer oft unübersichtlichen Lage, Entscheidungen treffen zu müssen. Solche zu treffen, falle ihm nicht schwer. Denn sollten sie sich als falsch erweisen, liessen sie sich korrigieren. Am schlimmsten sei es, wenn in einer Krise keine Entscheide gefällt würden. Damit sagt er indirekt auch, es habe schon falsche Entscheide gegeben.

Berset hat auch schon öffentlich Fehler zugegeben. Wie coronamüde ist er?
Ich habe ihn in guter Verfassung erlebt. Auch am Abend nach einem langen Tag präsent, nicht müde, stets klar in der Aussage. Er ist ein sehr erfahrener Politiker mit einer, wie mir scheint, ordentlichen Standfestigkeit.   

Warum nahm er sich Zeit für diese langen Gespräche mit Ihnen, wenn er doch in diesen Tagen so viel arbeitet wie noch nie zuvor in seinem Leben?
Er sagte mehrfach, dass er diese Momente geschätzt habe, um einmal Abstand vom hektischen Tagesgeschäft nehmen und über grundsätzliche Aspekte der Krise reflektieren zu können. So ging es in unseren Gesprächen etwa um den Föderalismus, das Regieren per Notrecht, die Rolle des Parlaments und die Arbeit des Bundesrats in Krisenlagen oder über den künftigen Stellenwert des Staates.  

«Als Held spielte er sich mir gegenüber nie auf»

Geht es ihm mit solchen Auftritten darum, sich selbst als Helden in dieser Krise zu zeigen?
Nein, als Held spielte er sich mir gegenüber nie auf. Er behauptete nie, er sei im Besitz der absoluten Wahrheit und er habe alles richtig gemacht. Mir schien, es war ihm ein Anliegen, seine Handlungsweise zu erklären, einen Einblick zu vermitteln, warum er wie gehandelt hat – das allerdings sicher auch mit Blick auf die Nachwelt. Dass er sich manchmal einsam gefühlt haben muss, tönt er nur an. So sei etwa sein Versuch, im Bundesrat einen Corona-Ausschuss zu bilden, gescheitert, weil niemand Mitglied dieses Ausschusses habe werden wollen. Er musste also die Verantwortung für das Dossier Corona allein schultern.  

Welche Frage, denken Sie, beschäftigt ihn in diesen Tagen am meisten?
Wie der Bundesrat das Land durch die Krise steuern und einigermassen zusammenhalten kann, ohne die Wirtschaft nachhaltig zu schädigen, aber auch, ohne weiterhin so viele Tote in Kauf nehmen zu müssen wie gerade jetzt.   

Von welchen Leitlinien oder Normen lässt sich Alain Berset leiten bei so schwierigen Entscheidungen? Und welche Ereignisse aus seiner Biografie helfen ihm dabei?
Bersets Grossvater und Bersets Mutter sassen als Vertreter der SP im Parlament des Kantons Fribourg. Er wurde also sozialdemokratisch sozialisiert und schloss sich dann ebenfalls dieser Partei an. Diese Weltsicht prägt sein Handeln. Seine zentrale Handlungsmaxime sei, sagte er mehrfach, der Passus in der Bundesverfassung: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Mehr als deutlich wies er die Vorschläge zurück, die Alten nach schwedischem Modell sterben zu lassen, damit es eine rasche Durchseuchung der Jungen gebe.

«Es gab andere Mitglieder der Landesregierung, die viel rigorose Massnahmen getroffen hätten»

Mit welchen Argumenten?
Diese Strategie sei zutiefst ungerecht, weil der heutige Wohlstand, die beneidenswerte Verfassung der Schweiz, unter anderem gerade ein Verdienst dieser «alten» Generation sei. Doch er verfügt durchaus über eine pragmatische Ader. Es gab andere Mitglieder der Landesregierung, die viel rigorose Massnahmen getroffen hätten, als sie Berset vorschlug. Die erstaunlichste Aussage war vielleicht diejenige zu seinem politischen Standort, bezeichnete er sich doch als Linksliberaler. Was hat ihn sonst geprägt? Wohl der Sport. Er war ein guter Mittelstreckenläufer, die Disziplin also, die am meisten Durchhaltewille und am meisten Härte mit sich selbst erfordert.

Wie sehr, denken Sie, nimmt Alain Berset Kritik der Medien zu Herzen? 
Mir schien, dass er Kritik sehr wohl wahrnimmt, mit ihr aber erstaunlich gelassen umgehen kann und sie nicht zu nahe an sich herankommen lässt. Immer wieder betonte er, Kritik sei wichtig, weil sie helfe, die eigene Position zu überprüfen. Aber man dürfe sich nicht zu kurzfristiger Hektik verleiten und damit von einem langfristig ausgerichteten Handeln abbringen lassen.

Führen Sie das Projekt mit Alain Berset weiter? 
Nein, das ist nicht geplant. Für mich handelte es sich um ein journalistisches Projekt, getrieben von der Frage, wie die Schlüsselfigur der Schweizer Corona-Krise tickt, getrieben aber auch von der Neugierde, einen Blick hinter die Kulissen des Berner Krisenmanagements werfen zu können.

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Das Buch ist bei NZZ Libro erschienen (ISBN: 978-3-907291-35-1) und im Buchhandel erhältlich.

*Das Interview wurde schriftlich geführt.

 

 



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