30.04.2020

Serie zum Coronavirus

«Es braucht mehr als nur Applaus»

Folge 34: Die Zürcher SP-Nationalrätin und Verlegerin Min Li Marti wird den diesjährigen 1. Mai im Netz feiern und geht auf den Spielplatz. Im Interview sagt sie ausserdem, welche Auswirkungen die Krise auf die Wochenzeitung P.S. hat.
Serie zum Coronavirus: «Es braucht mehr als nur Applaus»
«Wir sind seit Jahren immer akut gefährdet und haben kein Reserven und kein Sparpotenzial, weder personell noch finanziell», sagt Min Li Marti, SP-Nationalrätin und Verlegerin von P.S. (Bild: zVg.)

Frau Marti, wie feiern Sie den 1. Mai ohne Kundgebung und ohne Umzug?
Die Feier fällt leider aus, ich verbringe den Tag wohl, wenn es das Wetter zulässt, auf dem Spielplatz, wie recht oft in den letzten Wochen. Aber auch ohne Demonstration und Feier sind die Themen, für die der erste Mai steht, aktuell, gerade in diesem Jahr. Wir haben alle für das Pflege- und Gesundheitspersonal geklatscht, aber Respekt und Anerkennung braucht mehr als Applaus, es braucht auch einen anständigen Lohn und gute Arbeitsbedingungen und zwar in all diesen sogenannten systemrelevanten Berufen – von der Migros-Verkäuferin zum Strassenreiniger. Gleichzeitig gab es in den letzten Wochen viel spürbare Solidarität und viele innovative Hilfsangebote, das fand ich sehr positiv. Ich hoffe, dass das auch weiter geht, denn die schwierige Situation ist noch nicht ausgestanden.

Gibt es unter den Genossinnen und Genossen trotzdem einen Austausch, beispielsweise via Skype?
Verschiedene 1.-Mai-Feiern wurden ins Netz verlegt. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die SP haben beispielsweise auf mai2020.ch ein Onlineprogramm zusammengestellt, in das ich sicher auch hereinschauen werde.  

Wie fest hat diese ganze Coronakrise Ihren persönlichen Alltag als Politikerin und Verlegerin verändert?
Die Krise hat meinen Alltag klar verändert, auch wenn ich natürlich in einer privilegierten Situation bin, da ich ja einfach Homeoffice machen kann. Wie für alle Eltern war die Kinderbetreuung ganz ohne Grosseltern und Kita anspruchsvoll, ich bin froh, mussten wir nicht auch noch Homeschooling machen. Das ist auch etwas Schönes, aber natürlich auch streng. Und ich freue mich auch wieder darauf, wenn wieder mehr normales Office und weniger Home habe. 

Was heisst das konkret?
In der Politik, der Partei und im Nationalrat wurden viele Sitzungen  abgesagt oder in Videokonferenzen umgewandelt. Es dauerte auch eine Weile, bis das funktionierte. Mittlerweile scheint mir, haben wir besser gelernt, mit digitalen Hilfsmitteln umzugehen. Sie ersetzen aber den persönlichen Kontakt und das persönliche Gespräch trotzdem nicht. Ich habe mich aber auch gefreut, dass ich mehr freie Abende hatte.

«Sind die Leute bereit gleich viel zu zahlen

Welche Auswirkungen hat die ganze Krise auf Ihre Zeitung P.S.?
Wir haben unseren Erscheinungsrhythmus von wöchentlich auf zweiwöchentlich heruntergefahren. Kulturveranstaltungen fanden schliesslich keine statt, die kantonalen und kommunalen Parlamente tagten nicht und als lokale, gedruckte Wochenzeitung können wir kaum aktuell über die Coronakrise berichten. Hier sind elektronische Medien und Onlinemedien klar im Vorteil. Ab nächster Woche erscheinen wir wieder wöchentlich, aber mit reduziertem Umfang. Wir finanzieren uns hauptsächlich durch Abonnements und nicht über Inserate, daher ist der Einbruch der Inserate für uns zwar spürbar, aber nicht so existenziell wie für andere. Mehr Sorgen machen mir aber die Abonnemente: Sind die Leute bereit gleich viel zu zahlen, für weniger Umfang und Inhalt? Zudem sind wir natürlich nicht das Hauptmedium. Wenn die Leute finanzielle Sorgen haben, dann bestellen sie eher uns ab als die Tageszeitung, wobei auch die die Krise spüren.

Kann diese Krise sogar existenziell sein?
Ja, natürlich. Wir sind seit Jahren immer akut gefährdet und haben kein Reserven und kein Sparpotenzial, weder personell noch finanziell. Allerdings sind wir uns auch daran gewöhnt, dass man sich immer Gedanken machen muss, wie es in Zukunft weiter gehen soll. Die Coronakrise beschleunigt meines Erachtens den sowieso stattfindenden Strukturwandel der Medien massiv. Auch wir müssen uns überlegen, wo unsere Zukunft liegt. Sollen wir vermehrt auf Online setzen? Wir haben jetzt beispielsweise einen Newsletter eingeführt und werden jetzt prüfen, ob dieses Angebot sich bewährt. 

Nun kommt es ab dem 11. Mai zu einem ersten Schritt in die Normalität. Ist dies zu früh?
Der Druck ist natürlich enorm gewachsen, denn es drohen gravierende wirtschaftliche Folgen. Persönlich finde ich die sofortige Öffnung ab dem 11. Mai problematisch. Der Sinn eines schrittweisen Vorgehens ist ja, dass man etwas Zeit hätte, zu beobachten, ob sich die Lockerung negativ auswirkt. Eine zweite Welle mit erneutem Lockdown wäre wohl wirtschaftlich einiges schädlicher, als wenn man noch einen dritten Schritt Anfangs Juni eingeführt hätte. Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen wird. Was mich auch verunsichert, ist die etwas unglückliche Kommunikation zu den Kindern. Verbreiten sie nun das Virus oder nicht? Hier gibt es sehr widersprüchliche Aussagen. 

«Die Pandemie ist plötzlich eine politische Frage geworden»

Wie fest wird Corona langfristig unser Leben verändern?
Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht einfach zu beantworten. Zu hoffen ist, dass sie positive Entwicklungen einleitet. Dass beispielsweise vermehrt auf unnötige Flugreisen verzichtet wird, weil auch eine Videokonferenz durchgeführt wird. Dass Pflegeberufe und Kinderbetreuung einen höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft erhalten. Dass ein Gesundheitssystem nicht nur nach ökonomischen Kriterien funktionieren kann und soll. Dass der Staat wirtschaftliche und soziale Folgen effektiv abfedern kann. Dass zivilgesellschaftliches Engagement und nachbarschaftliche Hilfe auch ohne Pandemie weitergehen. Dass wir merken, dass wir als globalisierte Gesellschaft gemeinsam verletzlich sind und darum auch versuchen globale Probleme wie Klimawandel, Krieg oder Armut als Weltgemeinschaft anzugehen. Nach der grossen Depression der 1930er-Jahre und dem zweiten Weltkrieg wurden sozialstaatliche Massnahmen und Institutionen geschaffen, um solche Katastrophen zu verhindern. Wir sind heute sicher auch besser gerüstet, den wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu begegnen, als damals oder bei der spanischen Grippe. Bei der nächsten Pandemie müssen wir noch besser sein. Ob das gelingt, weiss ich nicht. Leider scheint mir, dass die Diskussion rund um Corona und den richtigen Umgang immer mehr der Klimadiskussion zu gleichen beginnt, bei der die einen die Erkenntnisse der Wissenschaft leugnen, andere Verschwörungstheorien verbreiten und die dritten nicht bereit sind, das Verhalten zu verändern und die Folgen einfach verdrängen. Die Pandemie ist plötzlich eine politische Frage geworden. Das ist nicht per se schlecht, aber nur wenn es wirklich die Bereitschaft zur gemeinsamen Lösungsfindung gibt.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Tage?
Beat Metzler schrieb im Tages-Anzeiger vor ein paar Tagen, dass Zürich während Corona zu einem Dorf geworden ist. Das scheint mir recht treffend. Mit allen Vor- und Nachteilen, die Dörflichkeit mit sich bringt. Ich habe viele Nachbarinnen und Nachbarn kennen gelernt, die ich wohl kaum kennengelernt hätte ohne Corona. Das hat auch etwas Schönes. Aber ich freue mich auch darauf, wenn meine Welt wieder etwas grösser wird. 



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com jeden Tag eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier




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