Urs Leuthard, sind Sie eher ein strukturierter Mensch – oder improvisieren Sie oft?
Die Struktur liegt mir von meinem Naturell her mehr, aber ich habe gelernt, die Improvisation und die Intuition freudig in meinem Alltag zu begrüssen. Es macht das Leben definitiv einfacher.
Mitte August haben Sie zusammen mit Tinu Niederhauser das Sachbuch «Strukturiert – Improvisiert» herausgegeben. Welche Reaktionen haben Sie seither erhalten?
Durchwegs positive – wobei die, die das Buch uninteressant finden, uns das wahrscheinlich auch nicht direkt ins Gesicht sagen würden. Was sehr gut ankommt: dass das Buch verständlich geschrieben und sehr praxisnah ist.
Was gab den Ausschlag, um diesen Ratgeber zu schreiben?
Die eigene Erfahrung. Ich brauchte viele Interviews, Gesprächsrunden und Sendungen, um für mich die richtige Mischung von Vorbereitung und Struktur auf der einen Seite, Improvisation und Intuition auf der anderen Seite zu finden. Aus Gesprächen weiss ich, dass es ganz vielen anderen Menschen gleich geht – nicht nur in der Kommunikation. Diese Erkenntnisse wollten wir gerne weitergeben.
Weshalb haben Sie sich mit Tinu Niederhauser zusammengetan?
Tinu ist seit vielen Jahren ein sehr guter Freund und mein Moderations- und Auftritts-Coach. Wir ergänzen uns perfekt: Ich bin der Praktiker, der all diese Kommunikationssituationen vor der Kamera oder vor Publikum erlebt; er ist der Trainer und weiss genau, wie er das Beste aus den Leuten rausholt.
Wie haben Sie sich strukturiert, um das Buch zu schreiben?
Da ich eher der strukturierte Typ bin und Tinu als gelernter Schauspieler eher der Freigeist ist, war klar: er Improvisation, ich Struktur. Die zentralen Kapitel, wo es um die Kombination der beiden Prinzipien geht, haben wir zusammen geschrieben. Die Interviews mit Nino Schurter, Suzanne Thoma, Lena-Lisa Wüstendörfer, Margrit Stamm und Pater Martin Werlen habe ich geführt, das ist ja sozusagen meine Kernkompetenz. Dafür hat sich Tinu um den Übungsteil gekümmert.
Auf LinkedIn habe ich in einer Rezension gelesen: «Egal wie gut man vorbereitet ist, die Fähigkeit zur Improvisation und die Ruhe zu bewahren, sind Gold wert.» Können Sie das so unterschreiben?
Jedes Wort und jeden Buchstaben. Und zwar in jeder Lebenssituation. Wir erzählen im Buch die Geschichte von Pilot Sully Sullenberger, der 2009 sein Verkehrsflugzeug auf dem Hudson River in New York notgelandet hat. Er war perfekt strukturiert und hervorragend vorbereitet, aber am Schluss musste er improvisieren und etwas machen, was in keiner Pilotenausbildung und in keiner Checkliste vorgesehen ist. Er hat damit 155 Menschen das Leben gerettet.
Wenn Sie sich in der Medien- und Kommunikationsbranche umschauen: Gibt es viel Verbesserungspotenzial?
Ja, das gibt es. Und zwar nicht, weil die Leute einen schlechten Job machen. Sondern weil es schlicht eine ungemein schwierige Aufgabe ist, ein Interview zu führen und jedes Mal zu improvisieren, wenn die Gesprächspartnerin einen überraschenden Aspekt erwähnt. Oder eine Keynote-Rede zu halten und dabei ganz Ohr zu sein für die verbalen oder nonverbalen Rückmeldungen aus dem Publikum. Oder eine Gesprächsrunde zu leiten und allen Aspekten, allen Teilnehmenden gerecht zu werden. Das ist eine Kunst, an der man immer wieder arbeiten muss.
«Offenbar habe ich zu wenig gut zugehört»
Können Sie mir ein konkretes Beispiel nennen?
Um niemand blosszustellen, nehme ich gerne mich als Beispiel. Ich habe für den 1. August ein längeres Interview mit Bundespräsident Berset geführt, das ich grundsätzlich für recht gelungen halte. Beim Nach-Schauen und Nach-Hören habe ich aber gemerkt, dass ich an mindestens drei Stellen zwingend hätte nachfragen und nachhaken sollen – offenbar habe ich zu wenig gut zugehört und mich zu stark auf die eigenen Fragen konzentriert.
Wenn Sie am 22. Oktober bei der SRF-Sendung «Wahlen 2023» die Ergebnisse analysieren: Können Sie da überhaupt strukturiert vorgehen? Bringt so ein Wahltag nicht viel eher dauerndes Improvisationstalent mit sich?
Die ganze Wahlsendung ist Minute für Minute durchgetaktet und durchstrukturiert. Die Erfahrung zeigt aber, dass spätestens nach einer Stunde die ganze Struktur Makulatur ist. Deshalb: Ja, ich werde am 22. Oktober permanent am Improvisieren sein. Aber die Vorbereitung und Struktur ist deswegen nicht nutzlos, im Gegenteil. Sie ist das Fundament, damit ich überhaupt improvisieren kann.
Bleiben wir beim Beispiel des Wahlsonntags: Wie konkret bereiten Sie sich auf diese Moderation vor?
Die beste Vorbereitung ist, dass ich in der Bundeshaus-Redaktion jeden Tag am Puls des politischen Lebens und auch des Wahlkampfs bin. Wir produzieren in den nächsten Wochen auch noch etliche Beiträge im Hinblick auf die Wahlen. Die letzten beiden Wochen vor den Wahlen werde ich die Ausgangslagen in allen Kantonen intensiv studieren und in Zürich mit Nathalie Christen, Curdin Vincenz und Sandro Brotz die Sendung proben.
«Ich bin authentischer und überzeugender, wenn ich frei formuliere»
Und wie schaffen Sie es, dass Sie dann nicht alles vom Blatt ablesen? Das kommt generell ja nicht sonderlich gut an.
Das ist genau das Thema unseres Buches. Indem ich mich intensiv vorbereite, dann aber auch bereit bin, jederzeit zu improvisieren, kann ich mithilfe von einigen Stichworten frei formulieren. Es braucht ein wenig Mut, weil man ja den Komfort- und Sicherheitsbereich verlässt, wenn man improvisiert. Ich habe in meiner ganzen SRF-Karriere – mit Ausnahme einiger «Rundschau»-Moderationen – nie vom Prompter abgelesen. Ich bin authentischer und überzeugender, wenn ich frei formuliere.
Einst moderierten Sie 250 Sendungen der SRF-«Arena». «Strukturiert – Improvisiert» passt da wohl wie die Faust aufs Auge …
Und wie. Für eine «Arena» braucht es tatsächlich beides, viel Struktur und sehr viel Improvisation. Die 250 Sendungen haben mir ein unschätzbares Fundament gegeben, um mit allen möglichen Situationen klarzukommen. Im Buch beschreibe ich, wie ich zu Beginn meiner «Arena»-Zeit die Sendungen minutiös strukturiert und durchgezogen habe, und wie ich dann lernen musste, dem Zufall und der Improvisation eine Chance zu geben, um in den Flow zu kommen und Magic Moments zu erleben.
Wie strukturiert waren da jeweils die Studiogäste?
Die meisten waren schon sehr gut strukturiert, einige hatten Mühe, die Fragen auch wirklich zu beantworten, anstatt einfach die vorbereiteten Statements von sich zu geben. Meist hat das mit der Angst vor dem Scheitern zu tun – auch darüber schreiben wir ausführlich in unserem Buch.
«Wir glauben nicht an die einfachen und vermeintlich sicheren Rezepte für eine perfekte Kommunikation – denn es gibt sie nicht», heisst es im Buch. Warum sollte man es dennoch kaufen, wenn ich für den Kaufpreis kein Patentrezept erhalte?
Weil die Kommunikation und das Leben nicht wie ein Betty-Bossi-Rezept funktionieren. Dafür ist es viel zu komplex. Nein, wir bieten nicht das Patentrezept, aber wir bieten viel Erfahrungen, Hintergrund, Übungen und sogar einen Selbsttest, damit jede und jeder für sich den richtigen Mix aus Struktur und Improvisation findet.
«Strukturiert – Improvisiert» von Urs Leuthard und Tinu Niederhauser ist im Verlag NZZ Libro erschienen und ist in jeder Buchhandlung und im Onlinebuchhandel erhältlich. Weitere Informationen finden Sie unter kommunikationsbuch.ch.