16.01.2023

August/September 2021

GUJER ERIC, September 2021

Eric Gujer ist nun seit bald sieben Jahren Chefredaktor der «NZZ». In dieser Zeit hat er dem einzigen Schweizer Weltblatt seinen Stempel aufgedrückt: durch Kommentare gegen den Rahmenvertrag, die SRG und Medien- subventionen oder durch provokante Wortschöpfungen wie «Seuchensozialismus». «persönlich» hat sich mit dem 59-Jährigen über den Zustand der Welt, der Schweiz und der FDP, seine Personalpolitik und die Frage, warum ihn der Fall der Berliner Mauer nachhaltig veränderte, unterhalten.
August/September 2021: GUJER ERIC, September 2021

Herr Gujer, Corona hat unsere Gesellschaft vollständig auf den Kopf gestellt. 
Wagen wir einen Blick in die Zukunft. 
Wie würden Sie diese einschätzen?
Es steht ein schwieriges Jahrzehnt bevor, weil die grosse Stabilität, die seit dem Mauerfall und bis vor wenigen Jahren vorherrschte, vorüber ist. Bei allen Differenzen hielten sich die traditionellen Grossmächte und auch die EU an bestimmte Regeln. Dies ist nun vorbei, heutzutage spielt jeder sein eigenes Spiel. Eine solche Situation sind wir nicht mehr gewohnt, und entsprechend gross sind die Risiken – auch für die Schweiz. Das Coronavirus hat dies akzentuiert, indem man gesehen hat, wie China und Russland durch Impfstoffdiplomatie versucht haben, zusätzlich zu punkten, während dies den USA und ihren Verbündeten mit ihren Impfstoffspenden weniger gut gelungen ist.
 
Welche Auswirkungen haben die Ereignisse in Afghanistan auf unsere Zukunft?
Die mit dem Fall der Berliner Mauer geborene Ideologie, der Westen müsse Demokratie-Export betreiben, notfalls auch mit Waffengewalt, gerät an ihren Endpunkt. Wir werden jetzt ein Revival der Realpolitik erleben. Das ist auch deshalb nötig, weil mit China und Russland die klassische Konfrontation der Grossmächte zurückkehrt. Wir können nur hoffen, dass diese in ein Gleichgewicht der Mächte und nicht in den Dschungel – jeder gegen jeden – mündet.
 
Wie beurteilen Sie die Lage der Schweiz 
für die nächsten Jahre?
Es stellt sich in erster Linie die Frage, ob wir uns langfristig an eine in der Pandemie schleichend ausgeweitete staatliche Einmischung gewöhnen sollten. Ich verneine das ganz klar.
 
Was heisst das? Sie haben in Ihrer Zeitung vor allem den Begriff «Seuchensozialismus» geprägt.
«Seuchensozialismus» bedeutet, dass sich der Staat während der Pandemie immer mehr Kompetenzen angeeignet hat. Zudem finden aufgrund der vielen Subventionen starke Verschiebungen zulasten der Privatwirtschaft statt. Diese Tendenzen gilt es im Auge zu behalten. Im europäischen Vergleich zählt die Schweiz, was den «Seuchensozialismus» betrifft, immer noch zu den «besseren» Ländern. Trotzdem ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit: Obwohl der Bundesrat eine Normalisierungsphase angekündigt hat, hat er keine weiteren Lockerungen beschlossen. Noch ist unklar, ob dereinst auch wieder eine Phase eingeläutet wird, bei der die Selbstverantwortung des Einzelnen im Vordergrund steht. Es fällt mittlerweile vielen Menschen schwer, sich ein anderes Leben vorzustellen als eines mit dauerhaften Corona-Restriktionen. Das Virus wird nicht verschwinden. Wir müssen uns daher fragen, ob wir auf viele Jahre so weitermachen wollen oder ob wir nicht zur Normalität zurückkehren sollten. Die Impfung wirkt, und sie schützt.
 
Wie erleben Sie die staatlichen Eingriffe?
Ein Beispiel: Gerade wird diskutiert, ob Restaurants nur noch mit Zertifikat für Geimpfte und Genesene geöffnet haben dürfen. Getestete würden ausgesperrt. Warum überlässt man die Entscheidung nicht dem Beizer? Hinzu kommt eine grundsätzliche Überlegung: Tatsache ist doch, dass bereits vor Corona Infektionskrankheiten existierten. Daran wird sich auch künftig nichts ändern, zumal auch andere Erreger auftauchen werden, die weitaus problematischer als Covid-19 sein könnten. Ich halte es deshalb für gefährlich, sich derart auf ein einziges Virus zu fokussieren.


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