10.04.2017

HASLER LUDWIG/Dezember 2016

HASLER LUDWIG/Dezember 2016

Ludwig Hasler ist der letzte Philosoph der Schweiz. In einen Referaten und Artikeln setzt er sich mit den Abgründen des menschlichen Lebens und der Gesellschaft auseinander. Seit zwanzig Jahren schreibt er zudem für «persönlich». Ein Grund, sich mit dem 71-Jährigen über die aktuelle Weltlage und die Herausforderungen der Zukunft zu unterhalten.

Herr Hasler, Sie sind seit zwanzig Jahren Kolumnist bei «persönlich» und haben in dieser Zeit rund 330 Kolumnen verfasst. Wurde die Welt in dieser Zeit komplizierter?
Ja, sie wurde komplizierter, auch schneller. Der Wandel gibt grad Gas.

Woran liegt das?
An der Digitalisierung, also der vierten Zündstufe der Industrialisierung. Das Projekt lautet: Die Maschine wird erwachsen. Im Kern dann zwei Fragen. Erstens: Wie sieht eine Welt aus, die von der Maschine übernommen wird? Zweitens: Welche Rolle bleibt dabei dem Menschen? Sind wir Piloten des Wandels – oder nur Passagiere? Akteure – oder Hanswurste von Algorithmen, die im Silicon Valley bewirtschaftet werden? Dieser Wandel erfasst nicht nur Produktion und Handel, er geht an die Knochen des humanen Selbstverständnisses. Dies zeigt sich bei der Trump-Wahl und ähnlichen politischen Erschütterungen.

Inwieweit hat dies mit der Digitalisierung zu tun?
Ich glaube, wir sind momentan etwas überfordert durch die Moderne. Die klassischen Werte offener Gesellschaften – Vernunft, Toleranz und so weiter – funktionieren, solange sie sich für den Einzelnen rechnen. Immer mehr Leute sagen sich heute: Okay, wir sollen vernünftig sein und tolerant – aber was haben wir eigentlich davon? Die da oben, die Eliten, die profitieren davon, klar, die Migranten sowieso. Aber wir? Und jetzt nimmt man uns noch die Jobs weg, weil Roboter billiger sind – und die viel gerühmte Globalisierung die Chinesen bevorzugt. Ein heikles Stimmungsgemisch. Unsere Gesellschaft lebt von den Verheissungen. Bis vor Kurzem entschädigte die Aussicht auf ewige Himmelsfreuden für irdische Miseren. Jetzt, wo das Jenseits vakant ist, brauchen wir die Satisfaktion hier – im Wachstum. Mehr Lohn, mehr Freiheit, mehr Komfort, mehr Spass: Davon lebt die Moderne. Stockt dieses Wachstum, bricht die Motivation weg. Die Wut richtet sich gegen Eliten, die mit ihren Versprechen «gelogen» haben. Dann wollen die Enttäuschten einen ihresgleichen an der Macht. Ob der, wie Trump, Milliardär ist, spielt keine Rolle.

Können Sie diese Entwicklung ­nachvollziehen?
Problemlos. Donald Trump ist ja kein Idiot – ohne praktische Intelligenz könnte er nicht machen, was er macht. Mit seiner Rüpelhaftigkeit setzt er sich ab von der Mentalität der Harvard-Abgänger. Wahrscheinlich kapierte er instinktiv: In kritischen Zeiten weckt kultivierte Rationalität mehr Argwohn als Vertrauen. Es ist ja diese Rationalität, die in die Krise führte. Die «Abgehängten» sehen in der offiziellen Vernunft ein Instrument der Herrschaft – und berauschen sich an einer Irrationalität, die simple Lösungen verspricht. Weil das Differenzierte suspekt wird, gewinnt das Simple. Schlauheit schlägt Bildung.

Können Sie ein bisschen konkreter werden?
Beispiel Bankendebakel 2008. Hat wer angerichtet? Die Masters of the Universe, piekfein gebildete Harvard-Absolventen. Die produzierten bemerkenswert lachhafte Torheiten, verpackten die Schulden armer Schlucker stets neu, verkauften sie jedes Mal teurer, in der Wahnsinnsannahme, Geld vervielfache sich jenseits der «Realwirtschaft» ewig weiter. Wer nur eine Spur Menschenverstand hat, konnte wissen: Das geht nicht auf. Wie erfolgreich Donald Trump als Geschäftsmann tatsächlich war, ist umstritten. Dass er aus dem Bauch heraus entscheide, sagt er selber. Man darf das glauben, ohne es toll finden zu müssen. Dieses «Bauchgefühl» schien vielen vertrauenswürdiger als eine scheinbar überlegene Rationalität, die nicht mehr einlöst, was sie verspricht.

Das betrifft jetzt vor allem die USA. Wie sieht es bei uns aus?
Wir sind Glückspilze. Nie ging es Menschen auch nur halb so gut wie uns heute hier. Wir haben nur ein Problem: Wie schaffen wir – nach so viel Erfolg – auch noch eine erfolgreiche Zukunft? Es geht uns so fabelhaft, dass wir alles wollen, bloss keine Veränderung. Wir wollen das prima Leben, das wir haben, behalten, wir wollen kein anderes – basta. Im Klartext: Wir wollen gar keine Zukunft, eher eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Wir wollen den Status quo konservieren. Dumm nur, dass bei jedem Status quo absehbar der Lack blättert. Trifft zu, was Olympiasiegerin Nicola Spirig sagt? Dass man mit der heutigen Schweizer Mentalität – zu satt, zu bequem, zu ehrgeizlos – nicht mehr an die Spitze kommt? Eine Frage der Mentalität. Hinzu kommt die Konkurrenz von aussen: Weniger satte Gesellschaften – siehe Osteuropa – sind ziemlich scharf auf Zukunft, sie wollen Veränderungen. Sodass auch für uns Glückspilze die evolutionäre Logik wieder gilt: Entweder werden wir besser, oder andere werden besser als wir. Ist nicht gemütlich, aber wir müssen entscheiden: Wohlstand oder Gemütlichkeit? Ich musste lachen, als der frühere Stadtpräsident von Zürich, Elmar Ledergerber, die jetzige Regierung – also seine Parteikollegen – kritisierte. Im Interview sagte er, mehr Velostreifen und Sozialwohnungen seien prima, nur lebe eine Stadt halt nicht davon. Wir haben vergessen, dass es Performance und Veränderung braucht, um unsere Erfolgs-story in die Zukunft zu verlängern. Wir wollen Feuer ohne Rauch, wir wollen einen Flughafen ohne Lärm, wir wollen Technik ohne Dreck. In Zollikon wohnen zwölftausend Menschen, ständig am Mobile, aber eine Antenne darf es nicht geben. Zu riskant!

Aber was hat dies mit der Digitalisierung zu tun? Kann es nicht sein, dass diese beiden Entwicklungen – Wohlstandserhaltung und Abneigung gegen die Harvard-Mentalität – zufällig parallel verlaufen?
Ja, warum nicht? Vielleicht bin ich – als Analog-Freak – fixiert aufs Digitale. Nicht nur, weil ich am Morgen in der S-Bahn schon all die gebeugten Online-Knechte sehe. Ich weiss auch: Unser modernes Leben ist nur digital steuerbar. Weil es auf allen Ebenen – Mobilität, Konsum, Partnersuche – so komplex geworden ist, kommen wir mit unserem Menschenhirn nicht mehr nach mit Rechnen. Wir müssen den Computer rechnen lassen – nach unseren Programmideen. Informatik, super. Steigt als Haushaltshilfe ein – und schwingt sich leicht auf zum Hausdrachen. Das beginnt erst. Manche fühlen sich bedroht.

Zu Recht?
Sicher. Die digitale Revolution hat völlig neue Unternehmertypen hervorgebracht, denken wir nur an Airbnb. Diese Erfindung stammt nicht von klassischen Unternehmern, sondern von Studenten, die sich bei einer Tagung kein Hotel leisten konnten. Ihre Frage war logisch: Braucht es eigentlich Hotels? Nein, braucht es nicht, es gibt ge-
nügend leere Betten. Die kann man digital organisieren. Dito Mitfahrmöglichkeiten. Braucht es Taxis? Nein, eigentlich nicht, es gibt genügend freie Plätze und Autos. So entstand Uber. Hinter diesen Unternehmen stecken keine eigentlichen Firmen, die
Hotels oder Taxis besitzen, sondern Plattformen, die Verbraucher und Anbieter zusammenbringen. Für viele traditionelle Unternehmen wird dies zur tödlichen Bedrohung.

Was bedeutet das für unsere Arbeitswelt?
Eine Oxford-Studie sagt: 47 Prozent der herkömmlichen Tätigkeiten werden in den nächsten zwanzig Jahren hinfällig. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um vermeintlich wichtigere oder unwichtigere Jobs handelt. Eine Coiffeuse werden wir mit grosser Wahrscheinlichkeit immer wollen. Beim Buchhalter habe ich meine Zweifel. Sogar beim Arzt. Digitale Diagnosegeräte sind super, Operationsroboter auch. Sie arbeiten zuverlässiger als die menschliche Hand, jedenfalls in standardisierten Situationen. Die Grundfrage lautet in jeder Branche: Können wir etwas, was der smarte Roboter noch in fünfzehn Jahren vermutlich nicht kann?

Kann man dies so einfach sagen?
Wer kreativ oder innovativ in sogenannten «chaotischen» Kontexten arbeitet, kann nicht durch Maschinen ersetzt werden. Anders sieht es bei Routinehandlungen aus. Ein Arzt, der nur sein allgemeines Studienwissen auf den konkreten Patienten herunterbricht, wird überflüssig. Das macht der Roboter besser, er hat den besseren Speicher, wird nie müde, ist nie betrunken, nie verliebt. Der Arzt jedoch, der mich als Individuum behandelt, mir zuhört, meine einmalige Geschichte kennt, wird nie ersetzbar werden. Darum wird uns die Arbeit nicht ausgehen.

Aber es wird weniger Arbeit geben?
Es wird andere Jobs geben. Qualifiziertere. Da liegt vielleicht das wahre Problem: dass die Qualifizierungs-Schwelle für manche zu hoch ist.

Es gibt Prognosen, die besagen, dass wegen der Digitalisierung in Zukunft nicht jeder eine Arbeit haben wird.
Tja, wer will das so genau wissen? Die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen zeigte: Ausgerechnet die Kreativen, die diese Initiative lancierten, haben keine Fantasie, wie die Zukunft aussehen könnte. Schon gar nicht, wie diese Zukunft zu gestalten wäre. Ich mag das Gejammer nicht: O je, die digitale Revolution frisst uns die Arbeit weg, also machen wir auf kreativ. Wir malen, «blockflötlen», spielen Beachvolleyball – reine Selbstbeschäftigung, wir sind ja so was von selbstverwirklichend. Finde ich jenseits. Die Würde des Menschen liegt nicht darin, dass er an sich und mit sich ein paar Locken drehen kann. Sondern darin, dass er die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er lebt, mit gestaltet und bestimmt. Das ist heute, wie gesagt, die Frage: Pilotieren wir den digitalen Wandel – oder fahren wir nur mit?

Obwohl Sie selbst ein Intellektueller sind, äussern Sie sich sehr kritisch über die sogenannte Gebildetheit. Kann diese mit dem Wandel der Gesellschaft überhaupt noch mithalten?
Meine Kritik richtet sich gegen das sogenannte Expertenwissen. Überhaupt gegen das Theater, das wir mit Wissen machen. Ich weiss auch allerhand, doch ich vergesse nie: Wissen ist ein Kind der Vergangenheit, es ist Wissen, weil es von gestern ist. Es kann also unmöglich eine sich wandelnde Welt gestalten. Dazu braucht es ganz andere Kräfte, Menschen mit Ideen, Leute, die bereit sind, bestehendes Wissen anzuzweifeln. Leute, die sehen, was jeder sieht, dabei aber denken, was noch niemand gedacht hat. Wann haben Sie das letzte Mal von einem Experten so etwas gehört? Etwas richtig Verblüffendes? Etwas, was uns die Welt neu sehen lässt?

Keine Ahnung. Gegenfrage: Wann war dies bei Ihnen der Fall?
Auf das Risiko, eingebildet zu wirken: Das letzte Mal machte ich diese Erfahrung bei einem meiner Auftritte. Plötzlich fiel mir etwas richtig Geniales ein (lacht).

Wo war das?
Ich stand mit Hazel Brugger auf der Bühne. Unser Programm: «Hasler & Hazel: Analog-digitale Querelen I–III». Hazel und ich sind nun wirklich nicht das erwartbarste Bühnenpaar. Damit war die erste Bedingung für Innovation schon erfüllt, ich nenne sie «Provokation des Zufalls»: weg aus komfortablen Gewohnheiten, hinein in fraktale Situationen. Dazu kam: Wir hatten das Programm nur in groben Zügen festgelegt, mussten also heftig improvisieren, waren entsprechend aufgedreht. Genau so gerät man in den Modus der Inspiration, das sagte schon Heinrich von Kleist, im Zustand «physiologischer Erregung». Erregt war ich zweifellos, vor grossem Publikum, zur Stegreifproduktion gezwungen, zum Reagieren ad hoc. Dann gehen alle Poren auf – oder zu. Hat geklappt. Experten kennen solche Situationen nicht. Sie sitzen im geheizten Büro, sammeln Daten, basteln an Modellen. Alles im «Schärmen», ohne Gegenwind, ohne Resonanz eines Publikums.

Ist das nicht die schöne alte humboldtsche Bildung?
Nein, ist es nicht. Humboldt war ein Abenteurer. Wir überschätzen das lernbare Wissen und unterschätzen das Handeln. Alle eignen sich heute kiloweise Fachwissen an, tragen ein super Portfolio mit schönen Titeln vor sich her. Im Beruf wie im Leben überhaupt kommt es aber auf die Person an. Siehe Lehrer. Wann lernen die Schüler? Wenn sie ihre Lehrerin toll finden. Sie jubeln nicht los, weil die Lehrerin so schrecklich viel weiss. Methodenwissen ist das Besteck, das setzt man voraus, interessieren tut das keinen, der bei Sinnen ist. Dennoch bilden wir am Laufmeter Methoden und Wissen aus, in der Annahme, man käme damit über die Runden. Läuft aber nicht so.

Warum?
Weil unser Hirn nur zur Hochform aufläuft, wenn es von einem anderen Menschen erblickt, motiviert, angespornt wird. Darum reicht es nie, Kompetenzen nur zu haben. Entscheidend ist, dass man aus diesen Kompetenzen etwas Schlaues macht. Ob man aber aus diesen Kompetenzen etwas Schlaues macht, liegt nicht an den Kompetenzen, sondern an der Person, an Charakter, Temperament, Willen, an Leidenschaft und Frechheit. Die entscheidende Frage lautet: Lebt dieses Person – oder wohnt sie schon? Ist sie eingehäuselt, verhockt – oder unternehmungslustig, vergnügt?

Das klingt ja sehr philosophisch. Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ich sprach gerade auf einem Alters-Kongress in Deutschland, da fragte mich die
Moderatorin, ob ich mir – bei meinem Alter – zutraute, Chinesisch zu lernen. Ich sagte Nein – und schob nach: «Moment, also wenn ich jetzt beim Hinausgehen einer wunderbaren sechzigjährigen Chinesin begegnete, dann könnte ich es mit links.» Das ist die Wahrheit. Wir alle wissen, so funktioniert ein Mensch. Unser Hirn ist keine Rechen­maschine, kein Lernroboter. Wir sind jedoch zu Ungeahntem fähig, sobald wir angeregt, angespornt werden – und dann angefressen sind.

In Ihrem Telefonbuch steht «Philosoph und Publizist». Was zeichnet einen Philosophen aus?
Das sind so Wischiwaschi-Vokabeln. Philosophie habe ich studiert, ich habe auch doktoriert, viele Jahre doziert, als Publizist mein Geld verdient. Physik habe ich auch studiert, aber ich habe nie als Physiker gearbeitet. Was ein Philosoph macht? Er denkt. Schadet auch nicht, wenn er manches weiss. Denken beginnt erst nach dem Wissen. Denken bewegt Wissen.

Es scheint, dass die Nachfrage nach Philosophen gestiegen ist.
Ist sie. Wie stets, wenn die Zeiten turbulent werden. Da sind wir schnell am Ende mit unseren Gewissheiten. Als Philosoph kann ich sagen: Ach so, Leute, ihr wollt glücklich sein? Aber was genau meint ihr mit Glück? À la Schopenhauer: «Es gibt kein Glück – ausser im Gebrauch der eigenen Kräfte»? Aber taugt der Mensch zum Glücklichsein? Oder konzentriert er sich besser auf Freiheit? Gibt es die überhaupt? Hirnforscher winken ab. Und so weiter, über das nachdenken, was sonst selbstverständlich ist: Wie läuft das mit uns Menschen? Wird ganz praktisch bedeutsam – für Ärztinnen, für Shoppingcenter-Chefs, für Regierungsräte, für Architektinnen, für Informatiker. Vor diesen und anderen Gruppen rede ich regelmässig über solche Grundsatzfragen – mit direktem Bezug zu ärztlicher Kunst, zu Verführung beim Shopping, zu Führung. Die Frage, wie Menschen ticken, ist mein Spezial­gebiet – und meine Haupteinnahmequelle (lacht). Der Mensch, ein ziemlich vertracktes Wesen.

Was bedeutet das?
Dass wir Menschen nur als zwiespältigen Wesen gerecht werden. Um uns herum ist alles eindeutig: Eine Katze ist eine Katze, ein Hund ist ein Hund. Der Esel ist komplett Esel, der Engel komplett Engel. Einzig der Mensch – halb Esel, halb Engel – hängt irgendwo zwischen dem Geistigen von oben und dem Animalischen von unten. Er ist der leibhaftige Zwischenfall. Das muss verstehen, wer ihn schulen, beschäftigen, gewinnen will.

Aber wie äussert sich dies?
Menschen können einfach drauflosleben. Wir müssen unser Leben führen. Das schaffen wir erst dann so richtig, wenn wir Kräfte aus uns herausholen, die wir selber noch kaum kennen. Bei Ödön von Horváth steht: «Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.» Bitte häufiger dazu kommen! Darin sehe ich das Pensum eines Menschenlebens: realisieren, was ich «eigentlich» sein kann oder könnte. Ist selten der bequemste Weg. Da liegen meist allerlei Hindernisse herum, Widerstände, Risiken. Die mögen wir momentan gar nicht. Wir haben es gern reibungslos. Nicht nur Frist­erstreckung für die Gegenwart, wie gesagt, sondern Fristerstreckung für eine problembereinigte Gegenwart. Unentwegt bügeln wir die letzten Ungereimtheiten aus, kitten Widersprüche. Damit ja nichts passieren kann, karren wir auch die Kinder in die Schule – und rauben ihnen das erste herrschaftsfreie Terrain zwischen Elternhaus und Schule. Wir nehmen ihnen die Chance, selbstständig zu sondieren, sozial zu experimentieren. So können Kinder gar nicht anfangen, ihr Leben zu führen, sie werden geführt.

Diese «Fristerstreckung für die Gegenwart», wie Sie es genannt haben, widerspiegelt ein konservatives Weltbild ...
Wer so gut lebt, will sein gutes Leben bewahren. Absolut logisch. Und riskant. Carl Friedrich von Weizsäcker verglich unsere Gesellschaft mit einem Velofahrer: Steht er still, fällt er hin. Also in Fahrt bleiben, vorwärts, innovativ. Wer stillsteht, hat verloren, egal, auf welchem Level er ausruht. Das ist theoretisch schnell kapiert. Praktisch stellt sich dann doch schnell ein verklärter Retroblick ein. Man delektiert sich an Bildern
einer heilen Welt, die es nie gab. Siehe Schweizer Fernsehen: Berge, Bergler, Hüttenwarte, Alpöhi … Nett zu sehen, nur: Die erfolgreiche Schweiz lebt seit 1880 von der Industrie, nicht vom Berglertum, eher von der technischen Auflehnung gegen die Armseligkeit des Berglerwesens. Wir waren bei den ersten Phasen der Industrialisierung stets ganz vorn. Und jetzt, bei der Digitalisierung? Wir können noch immer ganz vorn sein – wenn wir nicht zu bequem sind. Ich fürchte, wir sind zu bequem. Lehrplan 21 zum Beispiel führt Informatik nur als Ausbildung von Nutzerkompetenzen. Digitale Produkte bedienen statt programmieren. Bedienen, was andere erfinden, ist eine knechtische Kompetenz. Freiheit im 21. Jahrhundert wird technologisch: Programme, die unser Leben lenken, selber steuern. Das wäre Freiheit. Dazu müsste Informatik in die Grundschule. In der Schweiz aber ist Schule noch immer ein Institut für Sprachen. Obwohl die Weltsprache des 21. Jahrhunderts nicht Englisch ist und nicht Chinesisch, sondern Informatik.

Sind wir wirklich so bequem?
Sehen Sie mal auf die neue Fünfzigernote. Als ich diese erstmals in der Hand hielt, dachte ich, jetzt ist die Nationalbank bekifft. Sie sagt, auf der neuen Serie sollen exemplarische Handlungen der Schweizer im 21. Jahrhundert abgebildet werden. Und was steht jetzt da? Auf der einen Seite ein Gleitschirmflieger über den Alpen; Ideal einer reibungslosen Existenz, so nach dem Motto «Wir sind über dem Berg». Auf der Rückseite: Pusteblume. Die Schweiz, ein Erlebnispark? Kein Treibhaus für die Zukunft? Ich sehe die Schweiz als Laboratorium. Wir leben vom Düsentrieb-Spirit.

Sie sind in der Begleitgruppe Digitalisierung der Economiesuisse. Was bezwecken Sie dort?
Mitdenken, ganz einfach. Und siehe da, die Chefs von Siemens, IBM und Empa, die alle in der Gruppe dabei sind, denken auch gern nach – über Digitalisierung und Gesellschaft und Regulierung …

Können Sie diesen Wirtschafts-Cracks etwas bringen?
Bei fast allem, was ich treibe, bleibt dies unklar (lacht). Der Vergeblichkeitsargwohn ist mir nicht fremd. Aber zum einen: Ich dränge mich ja nie auf, ich werde eingeladen zum Reden, stets häufiger, ich kann längst nicht allen Anfragen folgen. Zum anderen: Ich mache nicht auf Beratung, ich weiss nicht besser, was ein CEO tun sollte. Ich weiss überhaupt nichts besser, ich kann nur denken, darin bin ich geübt. Ich denke nach über Technologie und Gesellschaft und Freiheit und Medizin und Maschine und was auch immer. Und dabei stets: Wie tickt ein Mensch? Ganz ohne pädagogische Absicht notabene. Viele sagen danach, wenn sie mir zuhörten, schalte ihr eigenes Denkzentrum schnell auf aktiv. Das gefällt mir. Sokrates sagte, Philosophieren sei mentale Hebammenkunst. Denken kann man nicht in andere hineinstopfen. Denken kann man nur herauslocken.



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