17.12.2003

LOETSCHER HUGO, Schriftsteller/Dezember 2003

Wie ist der Zustand der Schweiz und ihrer Gesellschaft? Der Schriftsteller und Journalist Hugo Loetscher hat sich zeitlebens mit dieser Frage auseinander gesetzt. Gegenüber “persönlich” äussert sich der 74-Jährige über den Stellenwert des Fernsehens, die Eitelkeit und seine Berufskollegen Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Adolf Muschg. Loetschers neustes Buch “Lesen statt klettern” (Diogenes Verlag) handelt von der Schweizer Literatur und ihren Exponenten. Interview: Matthias Ackeret und Oliver Prange, Fotos: Marc Wetli

Herr Loetscher, die Bundesratswahlen gelten als die Spannendsten der letzten Jahrzehnte. Wie beurteilen Sie persönlich das Ganze aus der Warte des Schriftstellers?

“Die Konkordanzdebatte macht die Politik endgültig zur Karikatur. Statt Bundesräte zu wählen, die für eine bestimmte Kompetenz stehen, diskutiert man, welcher Partei oder welchem Kanton sie angehören müssen, um überhaupt gewählt zu werden. Doch die Schweiz hat ganz andere Probleme.”

Hat sich die Konkordanz überholt?

“Im Prinzip schon, obwohl dieses Modell lange Zeit seine Berechtigung haben mochte. Doch was heisst Konkordanzregierung? Ausländische Kollegen fragen mich, warum beispielsweise die Grünen im Bundesrat nicht vertreten sind. Auch das wäre eine denkbare Konkordanz.”

Sie haben die Probleme der Schweiz angesprochen. Welches sind die dringendsten?

“Die Schweiz muss ihre Rolle in Europa finden. Föderalismus gegen innen ist das eine, Föderalismus gegen aussen das andere. Die Furcht, wonach die deutsche Schweiz bei einem Zusammenwachsen Europas Richtung Deutschland abdriften wird, halte ich für absurd. Wir sollten lernen, ein Land unter anderen zu werden. Das ist doch das Spannende an diesem Prozess. Wir Schweizer sitzen auf einem hohen Ross und glauben immer noch, dass wir die exklusivste Demokratie der Welt verteidigen müssten. Die Schweiz verkörpert nicht die Demokratie schlechthin, sondern vielmehr die Geschichte einer Demokratie. Diese wurde auch nicht vor 700 Jahren eingeführt, sondern ist ein historischer Prozess. Unsere Frauen können erst seit 30 Jahren an die Urne, die Juden verfügen seit Ende des 19. Jahrhunderts über politische Rechte, und ohne Napoleon gäbe es vielleicht immer noch Untertanenkantone. Gottfried Keller, weiss Gott kein Undemokrat, stellte sich gegen ein allgemeines Wahl- und Stimmrecht.”



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