10.03.2014

WALSER MARTIN/Oktober 2012

Der deutsche Schriftsteller Martin Walser hat mit dem Buch «Das dreizehnte Kapitel» (Rowohlt) soeben seinen 25. Roman veröffentlicht. «persönlich» hat sich mit ihm über die Kunst des Schreibens, Europa und die Schweiz unterhalten.

Herr Walser, Sie wohnen am Bodensee. Wie erleben Sie die Polemik deutscher Politiker gegen die Schweiz?
Weder was die Steuersünder noch was den Fluglärm angeht, habe ich irgendeine Erfahrung. Ich lese Zeitung. Schlimm ist, wenn sich ein deutscher Politiker in der Sprache vergreift und dann so komische Sätze sagt wie den mit der Kavallerie.

Das war SPD-Spitzenpolitiker Peer Steinbrück.
Ja, wobei ich den Mann inzwischen kenne und feststelle, dass das sein Temperament ist. Der ist imstande, vor jedem Frühstück einen solchen Satz auszusprechen. Aber an sich ist der Kavallerie-Satz saublöd, gerade von einem Deutschen.

Die Geschichte lässt das nicht zu?
Wenn Deutsche – egal ob sie Politiker sind oder Schriftsteller – sich engagieren in einer Formulierung, die nicht sie selbst oder Deutschland betrifft, sondern das jeweilige Ausland, da gibt es … jetzt muss ich mich wahnsinnig beherrschen: Da gibt es wahnsinnige Auftritte. Das Israel-Gedicht von Grass zum Beispiel …

Sie haben Grass verteidigt.
Ja, Grass ist kein Antisemit. Aber diese Art, dass ein Deutscher den Israelis sagt, was sie tun oder lassen sollen, das ist mir so fremd. Da fühle ich mich so unzuständig. Alles, was ich dazu weiss, habe ich aus den Medien. Keinerlei Praxiserfahrung. Da kann ich nichts Schwerwiegendes sagen, das dieses Land betrifft. Hinzu kommt, dass es als Deutscher Israel gegenüber nur die absolute Loyalität gibt, durch das, was wir hinter uns haben.

Deutsche Politiker oder Medien polemisieren neuerdings gern gegen kleinere Länder, etwa auch gegen Griechenland. Die Bild-Zeitung machte eine regelrechte Anti-Griechen-Kampagne.
Es findet eine Bajuwarisierung Deutschlands statt, und die können wir nicht brauchen. Jeder fürchtet, er müsse vielleicht für einen anderen zahlen, und in diesem Klima gedeiht politische Angstmacherei.

Welches Verhältnis haben Sie heute zur SPD, der Sie früher nahestanden?
Ich denke und sage schon eine ganze Zeit lang: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Personen. Natürlich fällt mir hier immer Kaiser Wilhelm II. ein, der einen unsäglichen Satz sagte: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche. Mir ist egal, ob es Deutsche sind oder nicht, aber es geht um erlebbare Personen – und nicht um Parteiprogramme.

Es sind immer SPD-Politiker, die zurzeit auf die Schweiz einprügeln. Sigmar Gabriel bezichtigte die hiesigen Banken der «organisierten Kriminalität».
Meine Meinung zu Steuersündern ist: Der Staat sollte Steuergesetze machen, dass so etwas nicht vorkommt. Wobei ich voraussetze, dass alle Mitbürger für Vernunft erschliessbar sind. Würde man nicht solche Wahnsinnssteuergesetze machen, hätte man wahrscheinlich keine Steuerflüchtlinge.

Haben Sie ein Schweizer Bankkonto?
Schon lange. Wir haben 1969 in Sarn ob Thusis im Kanton Graubünden ein Häuslein gekauft, weil wir alle so gern Ski fuhren. Das ist der Grund, weshalb wir hier ein Bankkonto eröffneten.

Sie rechtfertigen sich …
Nein, nein. Man hat mir mal dazu geraten, in die Schweiz zu ziehen. Ich dachte darüber nach und kam zum Schluss, dass das für mich nicht infrage kommt, denn ich bin ein deutscher Schriftsteller. Da kann ich nicht ein Emigrant aus Steuergründen sein. Darum bin ich geblieben und zahle leider diese furchtbaren deutschen Steuern. Auch Amerika kam für mich nicht infrage, wo ich einst Gastprofessor war – aus sprachlichen Gründen. Ich bin verurteilt, in Deutschland zu bleiben. Das Urteil lautet: lebenslänglich.

Früher haben Sie für SPD-Kanzler Willy Brandt geworben, nun sagten Sie im Spiegel über die CDU-Kanzlerin Angela Merkel: «Ich bin glücklich, diese Kanzlerin zu haben.»
Was gefällt Ihnen an ihr?

Je öfter ich sie sehe, umso deutlicher wird für mich die Qualität. Ihr grosser Mangel ist die Afghanistan-Politik, dieser militärische Einsatz ist eine Scheusslichkeit, eine historische Unbelehrbarkeit, eine untergangswürdige Haltung. Aber sonst macht sie es gut. Gegner aller Art werfen ihr vor, dass sie kein grosses Konzept habe, sondern Politik von Fall zu Fall mache …

… sie ist eine Pragmatikerin.
Und das finde ich gut. Bei diesem Griechenland-Thema kann man nicht anders handeln. Da ist mir alles Visionäre zuwider. Ich will keine «systemischen Änderungen» und keine neuen Superbehörden. Da ist mir von Fall zu Fall lieber: Das ist Merkel, das ist Schäuble, das ist wunderbar. Sie scheinen mir unbeirrbar zu sein. Ich kann nur für unbeirrbare Leute Sympathie haben.

In einem Essay für die FAZ haben Sie vergangene Woche ein flammendes Plädoyer für den Euro abgeliefert. «Meine Zustim­-
mung hat nur der, der die Europäische Union auch als Währungseinheit will», schreiben Sie. Warum ist es so wichtig, dass der Euro überlebt?
Weil der Euro mehr als eine Währung ist. Er ist eine Art Sprache, die in Europa jeder versteht. Ein Land aus diesem Sprachraum zu kippen, ist ein Horrorszenario. Ich meine, Europa darf nicht auseinanderdriften, sondern sollte zusammenrücken. Es geht wohl nicht ohne Fiskal- oder Wirtschaftsunion. Euer Blocher sagte mal, bezogen auf die Schweiz, eine Währungsunion funktioniere nicht ohne Wirtschaftsunion. Er hat recht.

Sie plädieren für die Vereinigten Staaten von Europa?
Nicht unbedingt. Mir ist ein Staatenbund lieber als ein Bundesstaat. Man muss vor allem spüren, dass die grosse kulturelle Tradition Europa auch eine politische Entsprechung braucht. Das muss würdig sein, und dem muss man sich Schritt für Schritt nähern.

Stört es Sie, dass die Schweiz in Europa nicht mitmacht?
Mich stört überhaupt nichts an der Schweiz! Wenn ich Blocher erklären höre, warum die Schweiz nicht in die EU soll, begreife ich das sofort. Die Schweiz hat mitten in Europa diese Stellung behauptet, und rundherum war Europa wahnsinnig. Da meine ich: Die Schweiz darf diese Stellung auch noch eine Weile in einem vernünftiger werdenden Europa behaupten, und vielleicht sogar geniessen.

Tatsache ist, dass die Schweiz in einem zusammenwachsenden Europa aussen vor bleibt.
Warum aussen vor? Sie bleibt mittendrin! Diese ganzen letzten Jahrhunderte, da war die Schweiz doch viel mehr aussen vor. Ich weiss nicht, woher Sie dieses Gefühl beziehen.

Viele Ihrer Romane, wie zuletzt «Muttersohn» oder «Angstblüte», aber auch ältere wie «Das Einhorn» handeln auch in der Schweiz. Warum?
Weil ich hier Freunde habe, so einfach ist das. Aber wo ein Roman spielt, das hat meist sehr beschränkte, nicht wissenswerte Gründe.

In Ihrem neuen Buch «Das dreizehnte Kapitel» das soeben erschienen ist, spielt der Schweizer Theologe Karl Barth eine wichtige Rolle. Wie sind Sie auf ihn gestossen?
Karl Barth ist der Nietzsche der Schweiz. Allerdings hat er es nicht so weit gebracht. Karl Barth ist ein bisschen nachgiebig geworden. Aber vorher, dieses Römerbriefbuch: Die Leidenschaft auf jeder dieser 600 Seiten ist in der deutschen Sprache nur vergleichbar mit Nietzsches «Menschliches, Allzumenschliches» und mit «Zarathustra». In meinem Roman ist Karl Barth der Meister einer Professorin für evangelische Theologie in Berlin.

Der letzte Roman «Muttersohn» handelte im katholischen Milieu, der neue nun im evangelischen. Zufall?
Zufall gibt es ebenso wenig wie Absicht. In «Muttersohn» habe ich meine Herkunftslandschaft im Oberschwäbischen ausgebeutet mit all diesen gemalten Kirchen. Und jetzt ging ich nach Berlin, wollte mich erholen. Das Katholische ist das Schöne, aber Karl Barth ist noch mehr. Ich habe seit zwanzig Jahren immer wieder versucht, einen Roman mit dem Titel «Das dreizehnte Kapitel» zu schreiben, dieser Titel war attraktiv für mich. Aber es war immer zu wenig Erfahrung da. Nun ging es plötzlich.

Warum?
Ich habe ein Projekt gefunden, das mich ungeheuer gereizt hat. Man könnte es so sagen: Zwei Leute, die einander nur einmal gesehen haben, mit der Aussicht, sich nie wieder zu sehen, schreiben sich zunehmend intimere Briefe. Denn sie merken, dass sie niemand anderem sagen können, was sie einander schreiben – auch nicht ihren glücklichst verheirateten Partnern. Diese Idee gefiel mir, denn sie zeigt: In dir drin passiert immer mehr, als du deinem Nächsten sagen kannst.

Sie verletzen im «Dreizehnten Kapitel» ein Stück weit Ihre Regel, wonach Romane immer ein glückliches Ende haben sollten.
Sie müssen nicht glücklich enden, aber sie sollten immer einen weissen Schatten werfen. Das ist etwas anderes. Und das tut nach meiner Leseerfahrung jeder Roman. Ganz wichtig sind mir der letzte Satz und das letzte Wort. Ich schaue bei Büchern, die ich lesen soll, zuerst immer auf den letzten Satz. Wenn der unauffällig, fad, flach ist, dann bin ich schon negativ beeindruckt.

Waren Sie mit 85 Jahren und nach so vielen Romanen noch aufgeregt, kurz vor Erscheinen Ihres neuen Buches?
Dem kann man gar nicht ruhig entgegensehen. Am 5. September war ich in Berlin, und diese Lesung bereitete ich Satz für Satz vor, ganz genau. Ich wählte aus, zählte Zeilen, verwerfe, bis ich die Fassung für die sechzig Minuten hatte. Ich war gierig, daraus vorzulesen, ich konnte es kaum erwarten!

Und dann wollten Sie Applaus, Anerkennung?
Das braucht man in diesem Niemandsland der Unentschiedenheit. Wobei ich nie von Anerkennung sprechen würde. Mir reicht Zustimmung. Bei Anerkennung ist schon ein Notengeber dabei.

Sie sind unglaublich produktiv, haben innerhalb eines Jahres vier Bücher geschrieben. Wie schaffen Sie das?
Mit der rechten Hand. Ich hatte immer Angst, dass ich die mal breche, aber zum Glück passierte das nie. Am Computer zu schreiben, das ginge nicht. Ich kann ihn schon bedienen, bin jeden Morgen ein Sklave der E-Mails, aber Bücher darauf zu schreiben – das wäre nicht dasselbe.

Wir meinten natürlich, woher Sie all die Ideen nehmen.
Es geht doch nicht um die Ideen. In meinem Buch «Messmers Reisen» heisst der erste Satz: «Fantasie ist Erfahrung». Darum gehts!

Dann hätten jüngere Leute keine Fantasie.
Also bitte! Erfahrung macht jeder von seinem ersten Lebenstag an. Alle Menschen sind geleitet durch früheste Erfahrung. Man schreibt mit dem Älterwerden andere Bücher als vorher, weil sich die Erfahrungen ändern. Was ich heute schreibe, hätte ich vor zwanzig Jahren nicht schreiben können.

Wie erleben Sie das Alter?
Das werden Sie von mir nicht erfahren.

Von Ihnen stammt der Satz: «Wenn jemand etwas sagt übers Alter, ist er gezwungen zu lügen.»
Und Sie wollen mich jetzt zwingen zu lügen!

Ja, weil auch folgender Satz von Ihnen stammt: «Durchs Lügen kommt auch viel heraus.»
Das stimmt, das kommt auch in meinem Buch vor. Da notiert die Iris: «Das lächerliche Verhältnis der Männer zur Sprache: Sie glauben, durch Wahrheit käme mehr heraus als durch Lügen.» Aber das mit dem Alter …Früher habe ich eine Stunde lang jeden Morgen ein Yoga-Gymnastik-Training gemacht. Heute würde ich das nicht mehr schaffen. Da gehe ich blöde zwanzig Minuten mit dem Hund in den Wald, nachmittags dann in den See.

Und was tun Sie für die geistige Fitness?
Da verspüre ich ein nicht nachlassendes Interesse am Lesen. Lesen und Schreiben sind eins. Wer glaubt, das seien zwei verschiedene Sachen, täuscht sich. Ich lese jetzt jeden Abend Nietzsche, ich brauche diesen auftrumpfenden, zupackenden, immer gelingend formulierenden Nietzsche. Wenn ich den lese, dann weiss ich noch vor dem Einschlafen, dass ich morgen gern schreibe. Dann sag ich mir: Morgen mach ich das auch so! Eines aber ist noch wichtiger. Die wirkliche Schreibquelle für jedes Thema ist Liebe. Ohne Liebe ist überhaupt nichts. Und Gott sei Dank überlebt dieses Kraftwerk, ohne Energiewende.

Haben Sie schon die Liebe für ein neues Buch?
Nächstes Jahr kommt ein drittes Messmer-Buch heraus, nach «Messmers Gedanken» und «Messmers Reisen» nun «Messmers Momente». Da heisst der erste Satz – und wenn Sie den verstanden haben, verabschieden wir uns: «Ich leide an Verfolgungswahn, und das ist das Einzige, was mich von meinen Verfolgern unterscheidet.»
 



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