23.03.2020

Das Zelt

«Bei über zwölf Monaten wird es existenziell»

Der vom Bundesrat ausgerufene Notstand hat den Live-Veranstalter «Das Zelt» hart getroffen. Im April hätte die Tournee am wichtigen Standort Zürich Halt gemacht. CEO und Direktor Adrian Steiner sagt, wie es mit der Planung nun weitergeht und welche Alternativen geprüft werden.
Das Zelt: «Bei über zwölf Monaten wird es existenziell»
Promovierte 1998 über die «urheberrechtliche Schutzfähigkeit der Zirkus- und Varietékunst»: Adrian Steiner. Sein eigenes Zelt – es steht immer noch in Lachen – schützt er mit Sattelschleppern vor Stürmen. (Bild: zVg.)
von Christian Beck

Herr Steiner, der Bundesrat hat vor einer Woche den Notstand ausgerufen, Veranstaltungen sind seither verboten. Was bedeutet dies konkret für «Das Zelt»?
Dies bedeutet, dass wir wie viele Firmen in der Veranstaltungsbranche in dieser Situation Kurzarbeit beantragt haben. Wir mussten bis auf Weiteres den Live-Betrieb komplett einstellen. Wir müssen abwarten, wie es nun weitergeht. Das Spezielle ist ja: Wir wurden als bestehender Spielbetrieb erwischt. Das Zelt steht jetzt noch am Obersee in Lachen. Einfach leer. Und die Zeit steht still.

Und das Veranstaltungszelt bleibt vorläufig in Lachen stehen?
Die Frage ist noch zu klären, ob «Das Zelt» nun eine Streaming-Plattform wird. Aber im Moment bleibt das Zelt stehen. Wir konnten noch nicht mal mit der Gemeinde Lachen sprechen, weil offenbar alle überlastet waren und wir niemanden erreichen konnten. Das ist alles so schnell vonstatten gegangen.

Streaming-Plattform? Ist es eine Alternative, die geplanten Veranstaltungen virtuell durchzuführen?
Das ist jetzt mal ein möglicher Gedanke, was man in dieser Situation machen könnte. Ich gehe davon aus, dass das Veranstaltungsverbot deutlich länger gilt als bis zum 19. April. Unser wichtigster Standort Zürich musste komplett abgesagt werden – zum ersten Mal seit 18 Jahren. Einfach gestrichen.

«Wir planen nun die Tournee auf die zweite Jahreshälfte»

Sie erwähnten es: Der Notstand gilt vorläufig bis am 19. April. Was, wenn das Veranstaltungsverbot verlängert wird?
Ich persönlich gehe davon aus, dass das Verbot mindestens bis zu den Sommerferien gilt. Wir planen nun die Tournee auf die zweite Jahreshälfte. Wir verlagern also die Tournee schwergewichtig ins vierte Quartal.

Sie sagen, sie verlagern – und zuvor erwähnten Sie, Zürich musste komplett gestrichen werden. Gibt es für Zürich kein Ersatzdatum?
Zürich und Basel sind zwei sehr wichtige Standorte. Diese wollen wir in der zweiten Jahreshälfte bespielen. Die Gespräche mit den Behörden sind am Laufen, zudem stehen wir in Kontakt mit allen Künstlern. Es ist eine riesige Organisationsaufgabe, das alles zu verschieben.

Wie lange können Sie noch durchhalten, bevor Sie die Segel streichen müssen?
Das ist die ganz entscheidende Frage. Wenn das Veranstaltungsverbot einige Monate lang gilt, überleben wir das. Wenn es aber mehr als zwölf Monate geht, wird es existenziell. Und wenn generell der menschliche Kontakt lebensbedrohlich wird, dann geht eine ganze Industrie zu. Dann hätte das bestehende Modell im bisherigen Sinn von «Das Zelt» keine Zukunft – wie auch jedes Theater keine Zukunft mehr hätte. Daher sind wir dabei, für die starke Marke «Das Zelt» neue Geschäftsmodell zu entwickeln.

Kann man ein Ereignis wie das Coronavirus versichern?
Ja, das kann man. Wer für die Fussball-EM sein Ticket zurückgibt, wird entschädigt. Die meisten Veranstalter versichern das jedoch nicht. Kommt hinzu: Die meisten No-Show-Versicherungen, die es gibt, haben Epidemien ohnehin ausgeschlossen.

Und wie ist das bei «Das Zelt»? Kriegen Sie von irgendwoher Geld?
Wir sind noch diesbezüglich in Abklärung.

Was ist mit den Gagen an die Künstler, die Sie bereits verpflichtet haben – müssen Sie diese trotzdem bezahlen? Oder tragen die Künstler auch einen finanziellen Verlust?
Wenn wir die Auftritte verschieben können und in der zweiten Jahreshälfte die Welt wieder in Ordnung ist, kommen mit grosser Wahrscheinlichkeit alle mit einem blauen Auge davon. Wenn wir die Auftritte hingegen absagen müssen, tragen «Das Zelt» wie auch die Künstler einen bleibenden Schaden davon.

«Das Thema Sturm wird zum zunehmenden Problem»

Apropos Versicherungen: Das ist vermutlich ohnehin ein grosses Thema. Was müssen Sie alles versichern, wenn Sie irgendwo gastieren?
«Das Zelt» ist rechtlich ein Zirkus- und Schaustellerbetrieb, als solcher braucht es eine Schaustellerbewilligung. Damit man diese Bewilligung vom Heimatkanton ausgestellt bekommt, braucht es umfangreiche Versicherungen. Die kostenintensivste ist die Haftpflichtversicherung.

Dann müssen Sie jeweils den plattgedrückten Rasen berappen?
Klar, das müssen wir immer bezahlen. Es gilt ist das Verursacherprinzip. Wir müssen alle Kosten tragen, die mit einem Standort zusammenhängen, dazu gehören auch Strom und Wasser. Und wir müssen den Platz genauso hinterlassen, wie wir ihn angetroffen haben.

Aber das ist kein Versicherungsfall …
Nein, das gehört zu unseren Tourneekosten. Was aber zugenommen hat von den Risiken her ist das Thema Sturm. Das hat mit der Klimaveränderung zu tun. Wir mussten sturmbedingt schon Vorstellungen verschieben. Dem Zirkus Knie ist in Bellinzona schon sein Zelt davongeflogen – sowas gab es früher nicht.

Haben Sie schon eine Lösung, wenn der Sturm zu einem dauerhaften Problem wird?
Wir werden ja vom TÜV kontrolliert und gelten als sehr sturmerprobt. Wir haben beispielsweise Schwerlastplatten an unserem Zelt. Wenn wir wissen, dass ein Orkan im Anzug ist, bauen wir aus den Sattelschleppern eine Wagenburg. Dann passiert gar nichts. Weil wir auch beim Aufbau in Lachen mit starken Winden zu kämpfen hatten, stehen nun dort zwischen dem Zelt und dem Obersee unsere grossen Sattelschlepper.

Wenn nicht wie derzeit stürmische Zeiten herrschen, sind Sie ja eigentlich DER Comedy-Macher. Auf welchen Künstler, der bei «Das Zelt» noch eher unbekannt auftrat, sind Sie besonders stolz?
Wir haben das Privileg, dass die erfolgreichsten Künstler, die es in der Schweiz je gab, seit Jahren mit uns durch die Schweiz reisen: Divertimento. Die Komiker wurden aber unabhängig von uns berühmt und erfolgreich – wir haben höchstens ein wenig dazu beigetragen. Wir sind sehr glücklich, die beiden seit Jahren bei uns haben zu können. Zurück zu Ihrer Frage: Es ist für uns ein grosses Anliegen, talentierten Nachkünstlern den Zugang zu einem breiten Publikum zu verschaffen. Daher bin ich stolz, dass der Nachwuchskomiker Cenk im aktuellen «Comedy Club» mit uns auf Tournee kommt – sofern diese denn auch noch stattfindet …

Auch Sie selbst standen einst in der Manege …
Genau. Ich gründete als Zwölfjähriger zusammen mit meinen Brüdern einen Kinderzirkus. Den gibt es noch heute in Basel. Direkt aus diesem Kinderzirkus hinaus wurde ich 1991 vom Zirkus Knie engagiert. Ich war Fahrradkünstler und reiste zusammen mit Anja Wyttenbach als Duo «Pas des deux sur cycle» während sieben Jahren rund um die Welt.

«Ich mutierte zum schwarzen Schaf der Familie»

Und mit dem Kunstrad fuhren Sie schliesslich davon direkt ins Jus-Studium. Wie kam es zu diesem Bruch im Leben?
(Lacht.) Ich bin ein Akademikerkind und stand somit unter einem gewissen Druck zu studieren. Man hatte Freude an mir, solange ich jung war. Je älter ich wurde, desto mehr mutierte ich zum schwarzen Schaf der Familie. Ich war ja nicht Zauberer oder Sänger, sondern Akrobat. Und als solcher hat man wie ein Fussballer eine Karriere danach. Das ist normalerweise kein lebenslänglicher Job. Somit beendete ich als 26-Jähriger meine Artistenkarriere wieder und schloss ich das bereits begonnene Jusstudium ab.

Die Juskarriere war aber nicht von langer Dauer …
Als Bürgerlicher war ich zu künstlerisch und als Künstler zu bürgerlich. Ich war eigentlich immer am falschen Ort. Nun habe ich einen Mittelweg gefunden. «Das Zelt» ist eine Plattform zwischen der bürgerlichen und der künstlerischen Welt. Da fühle ich mich so wohl wie ein Fisch im Wasser.

Was gab den Ausschlag für «Das Zelt»?
«Das Zelt» war ein offizielles Projekt der Expo.02. Nach einer massiven Budgetüberschreitung wurde dieses Kulturprojekt jedoch wieder gestrichen. David Dimitri, der Sohn von Clown Dimitri, rief mich als Rechtsanwalt an und bat um Hilfe, weil er sein Engagement verloren hatte. Wir reisten nach Neuenburg und realisierten das Expo-Projekt auf privater Basis. Die Gründung von «Das Zelt» ist der Ausdruck von Selbstüberschätzung und Naivität zweier Künstler von damals, weil wir als Privatpersonen ein unternehmerisches Risiko übernommen hatten, welcher für die Schweizerische Eidgenossenschaft mit ihrem 1,6-Milliarden-Budget der Expo.02 als zu hoch eingeschätzt wurde (lacht).

Dass Sie überhaupt telefonisch kontaktiert wurden von Dimitri, ist Ihrem Jusstudium zu verdanken. Da schliesst sich der Kreislauf …
Genau. Ich hatte als Rechtsanwalt bereits ein Türschild für meine Anwaltspraxis. David Dimitri war mein erster Klient – und auch mein letzter (lacht). Wir wussten: Auch der Cirque du Soleil entstand aus einer Landesausstellung heraus – aus jener in Montreal. Eine Landesausstellung ist für die Gründung eines solchen Projekts ideal. Das bewahrheitete sich: In den ersten 156 Tagen unserer Firmengeschichte hatten wir eine Million Live-Besucher.

Was wurde aus dem Türschild?
(Lacht.) Das habe ich wieder abgeschraubt und kurz aufbewahrt. Mittlerweile habe ich es nicht mehr.

Jetzt, wo «Das Zelt» wegen der Coronakrise pausieren muss: Wäre es rückblickend besser gewesen, Sie hätten das Türschild aufbewahrt und doch als Anwalt weitergemacht?
Nein. Eine unternehmerische Tätigkeit ist ja auch eine kreative und spannende Angelegenheit – und bekanntlich ist das einzig Beständige der Wandel. Kulturunternehmer zu sein interessiert mich mehr als eine rein juristische Dienstleistungstätigkeit.



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