26.06.2000

"Das Ende des Gewäschs über den Mehrwert der Waren"

Das Cluetrain Manifesto – 95 Thesen zum "neuen Marketing".

New Media, was heisst das. Sicher einmal, dass die alten Medien herausgefordert sind. Aber wer glaubt, mit Netzanschluss und Bildschirm sei er dabei, irrt sich. Die Netze und die Bildschirme verändern die Kommunikation von Grund auf. Es geht um die Frage: Wer und was ist der Markt? Namhafte amerikanischen Experten im Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit und des Internet nennen die Dinge beim Namen. Sie gehen zurück zu den Wurzeln des Marketings und der Kommunikation, zum menschlichen Gespräch. Sie tun das in einer Sprache, die gleich ein Beispiel abgibt für das, was ein Gespräch sein kann. Das "Cluetrain Manifesto" hat in den USA und in Deutschland entsprechend für Wirbel gesorgt. In der Schweiz geistert es als "Samisdat" unter Freunden kettenbriefartig von Bildschirm zu Bildschirm. In 95 Thesen zielen die Verfasser auf die Kommunikation nach aussen und nach innen – und treffen manchen altgedienten Kommunikations- und Marketingmann mitten ins Herz. Für den Spezialbereich "New Media" an der Schweizer Marketing Messe X ‘00 vom 22. bis 24. August in Zürich sind die Thesen Programm. Im Auftrag der Reed Messen (Schweiz) AG hat Markus Mäder die 95 Thesen zum "neuen Marketing" der Agentur Pepper in eigene Worte gefasst.

95 Thesen zum Marketing in den New Media

Märkte sind Gespräche. Sie bestehen aus Menschen, nicht aus demographischen Kategorien. Gespräche zwischen Menschen klingen menschlich. Sie werden mit menschlicher Stimme geführt. Menschen erkennen einander an ihrem Klang. Durch das Internet kommen Menschen miteinander ins Gespräch. Im Zeitalter der Massenmedien war das undenkbar. Menschen reden miteinander sowohl in den intervernetzten Märkten als auch unter intravernetzten Kollegen. Hyperlinks untergraben die Hierarchien. In vernetzten Märkten mitzuwirken, verändert die Menschen grundlegend. Sie durchschauen, was gespielt wird, und wissen, dass sie sich aufeinander besser verlassen können als auf die Anbieter. Das ist das Ende des Firmengeschwätzes über den Mehrwert ihrer Waren. Es gibt keine Geheimnisse. Der vernetzte Markt weiss mehr als der Hersteller über seine Produkte. Ob gut oder schlecht, das Wissen spricht sich herum. Aber die Unternehmen äussern sich nicht mit der Stimme der neuen, vernetzten Gespräche. In den Ohren ihrer Zielgruppen klingen sie hohl, es ist die Stimme des Unmenschen.

Schon bald wird uns die gängige Stimme des Geschäftslebens, die Sprache der Corporate Identity und der Prospekte, so affektiert vorkommen wie die Sprache der barocken Fürstenhöfe. Wer noch glaubt, die Online-Märkte seien dieselben, die einst ihre Fernsehwerbung ertragen haben, macht sich etwas vor. Unternehmen, die nicht begreifen, dass ihre Märkte von Person zu Person vernetzt sind, könnten ihre letzte Chance vertun. Der Markt gedeiht, wo wirkliche Werte mit Bescheidenheit angeboten werden: Wo Unternehmen geradeheraus sagen, wie die Dinge liegen und dann dazu stehen. Am besten etwas, das dem Markt nahe geht. Das Geprotze "Wir streben an, der Beste im Markt zu sein", ist keine Position, die irgend einen interessiert. Solche Öffentlichkeitsarbeit hat mit der Öffentlichkeit wenig zu tun.

Die Unternehmen ängstigen sich vor ihren Märkten. Ihre arrogante Sprache hält die Menschen auf Distanz, sie bauen Mauern, um die Menschen draussen zu halten. Wahrscheinlich damit der Markt nicht dahinterkommt, was sich im Unternehmen abspielt. Mahatma Gandhi meinte: "Vertrauen ist eine Tugend. Misstrauen geht immer aus Schwäche hervor." Markentreue ist im Geschäftsleben etwa dasselbe wie eine junge Liebe. Aber die Trennung droht, und zwar bald. In den vernetzten Märkten finden sich neue Liebschaften im Handumdrehen. Vernetzte Märkte wechseln ihre Lieferanten und vernetzte Wissensarbeiter ihren Job über Nacht. Es ist übrigens die Sucht der Unternehmen zum Downsizing, welche die Menschen provoziert: "Treue, wovon redet ihr eigentlich?"

Die intelligenten Märkte finden Anbieter, die in ihrer Sprache mitreden. Mit menschlicher Stimme zu sprechen, ist kein Partytrick. Sie kann auch nicht in trendigen Workshops aufgeschnappt werden. Um die menschliche Stimme wiederzugewinnen, muss das Unternehmen die Besorgnisse seiner Kunden teilen. Um das zu können, muss es zu einer Gemeinschaft, einer "Community" zählen. Gemeinschaften gründen auf Diskurs. Die Gemeinschaft des Diskurses ist der Markt. Unternehmen, die nicht zu einer Gemeinschaft des Diskurses gehören, sterben ab. Innerhalb des Unternehmens sprechen die Menschen genauso miteinander, wie sie es in den vernetzten Märkten tun. Nicht über Orga-Anweisungen, Führungsvisionen und Betriebsergebnisse. Echte Gespräche spielen sich über die Intranets ab, aber nur, wenn das Betriebs-Klima stimmt. Wenn nicht, ignorieren die Mitarbeiter das Gewäsch. Deshalb bilden sich die besten Intranetze von unten nach oben.

Die Märkte lehnen Eure verabreichten Sprachhülsen ab. Sie wollen mitmachen bei den Gesprächen hinter dem Firewall des Unternehmens. Werden wir persönlich: Wir sind diese Märkte. Wir möchten mit Euch sprechen. Wir wollen wissen, was ihr in den Unternehmen treibt. Wir wollen Zugang zum Besten, das eure Intelligenz zu bieten hat. Wir sind übrigens auch Eure Mitarbeiter. Wir wollen mit den Kunden sprechen, und zwar mit unserer Stimme und nicht mit den vorverdauten Plattheiten Eurer Telefonskripte. Als Märkte und als Mitarbeiter hängen uns Eure "Informationen" stundenlang und meterweise zum Halse heraus. Glaubt ihr wirklich, wir brauchen die gesichtslosen Jahresberichte und die Studien eurer Marktforschung, um uns miteinander bekanntzumachen? Eure Vierfarb-Broschüren öden uns an, und der Schnickschnack auf euren Websites schmeckt nach Konserve. Eure Sprache ist eine Fremdsprache. Gegen Werbung sind wir immun. Die könnt ihr vergessen. Vielleicht beeindruckt ihr damit die Geldgeber. Aber nicht uns. Wenn Ihr auf uns keinen Eindruck macht, gehen eure Aktionäre baden. Verstehen die das nicht? Sobald sie es begriffen haben, fallen eure Kurse. Wollt ihr mit uns handeln, dann steigt vom Kamel. Erzählt uns etwas. Zur Abwechslung etwas Interessantes.

Ihr möchtet, dass wir bezahlen? Wacht auf: Wofür eigentlich! Kommt von Eurem Egotrip herunter, findet aus Eurer Selbstverschlungenheit heraus! Keine Sorge, ihr könnt auch in Zukunft Geld an uns verdienen. Vorausgesetzt, ihr habt noch etwas anderes im Kopf. Fällt euch nicht auf, dass Geld an sich unendlich langweilig ist? Was habt ihr sonst noch drauf? Geschäfte sind nur ein Teil unseres Lebens. Für Euch scheint es das Ganze zu sein. überlegt doch mal: Wer braucht hier wen? Wir sitzen am längeren Hebel. Wenn Ihr das noch nicht geschnallt habt, kommt ein anderer Anbieter, der aufmerksamer ist, und nicht so öde. Wir zählen darauf, dass ihr demnächst fünfzig Millionen von uns so ernst nehmt, wie einen Eurer grossköpfigen Fachleute. Wetten, Euer Name wird sich wie ein Buschfeuer verbreiten, wirksamer als mit Euren Kommunikations-Tools. Ihr sagt, das Gespräch mit dem Markt gehört in die Hände von Spezialisten. Dann halt. Uns gefällt der neue Marktplatz besser. Den schaffen wir uns nämlich selber. Ihr seid eingeladen, aber es ist unsere Welt. Unser neuer Diskurs ist spannender als fast alle Eure Messen, unterhaltsamer als jedes Fernsehen und ganz bestimmt lebensnaher als die Websites und Drucksachen, die ihr uns zumutet. Unternehmen, die das kalt lässt, ja die nicht einmal darüber streiten, haben keine Zukunft.



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240419