26.11.2020

Black Friday

«Es kommt definitiv zu Zusatzgeschäften»

Am Freitag kommt es zu einer Rabattschlacht. Doch der diesjährige Black Friday wird anders als bisher. Martin Künzi, Partner der Agentur Enigma, ist überzeugt: Es wird einen Rekordtag geben. Ein Gespräch über Corona, verpasste Chancen und nachhaltige Wirtschaft.
Black Friday: «Es kommt definitiv zu Zusatzgeschäften»
«Viele Firmen vergessen, dass Produkte immer auch mit Dienstleistungen verbunden sind», sagt Martin Künzi, COO und Partner der Kommunikationsagentur Enigma. (Bild: zVg.)
von Christian Beck

Herr Künzi, am Freitag ist Black Friday. Was steht auf Ihrer Einkaufsliste?
(Lacht.) Wir sind vor ein paar Monaten vom Elternhaus meiner Frau in eine Eigentumswohnung umgezogen. Dabei haben wir uns gesagt: Lass uns zuerst das Haus verkaufen, bevor wir anderweitige Anschaffungen tätigen. Meine Liste ist deshalb über die vergangenen Monate stetig gewachsen: Ich möchte beispielsweise meine zehnjährigen Skis ersetzen, ein paar Kleider- und Schuhwünsche gibt es immer, für die Wohnung brauchen wir noch Vorhänge und einen Tisch … Aber ich merke gerade, dass diszipliniert Warten ein gutes Gefühl vermittelt. Da ich im Marketing arbeite, sind typische Black-Friday-Produkte – Laptop, Smartphone, Kopfhörer – meine Arbeitswerkzeuge, und die behalte ich gerne auf dem neuesten Stand. Also keine akute Kaufwut.

In der Schweiz gilt aufgrund der Coronakrise eine Homeoffice-Empfehlung. Wird dies den Black Friday beeinflussen?
Definitiv. Wir haben gesehen, wie Heimlieferdienste und der Onlinehandel während des Lockdowns im Frühjahr explodiert sind. Ich selbst habe eine emotional schöne Erfahrung gemacht: Eine Nachbarin hat während des Lockdowns einen Bauern aus dem Seeland ins Quartier bestellt. So konnten wir Obst und Gemüse direkt ab Hof kaufen. Heute bestellen wir unser Gemüse regelmässig online und holen es freitags in der nächsten Querstrasse selbst ab. Das Arbeiten von zu Hause aus hat also begonnen, unser Verhalten zu beeinflussen.

Sie rechnen damit, dass es zum grössten Black Friday in der Geschichte kommen wird …
Seien wir ehrlich. Von einem Tag auf den anderen fiel der Arbeitsweg bei vielen Wissensarbeiterinnen und -arbeitern weg. Anstatt im Pendlerverkehr auf dem Smartphone durch den Instagram-Feed zu scrollen, sitzen die Leute viel länger vor dem Desktop-Arbeitsgerät. Die natürliche Kontrolle des Grossraumbüros, wer am PC welche Website geöffnet hat, fällt weg und das digitale Marketing hat sprunghaft zugenommen. Die Formel ist einfach: mehr digitale Werbung, mehr Klicks, mehr Zeit, weniger natürliche Kontrolle … Da ist es unschwer zu erraten, dass sich Besucherzahlen in Onlineshops vervielfachen und damit auch die Verkäufe.

«Die Coronakrise ist der Chief Digitalisation Officer»

Also hat die Coronakrise sozusagen die Digitalisierung beschleunigt?
Ja, die Coronakrise ist der Chief Digitalisation Officer – und wohl der erste in der Geschichte, seit es Computer gibt, dem alle gehorchen und dessen Massnahmen konsequent umgesetzt werden. Das beste Beispiel dafür ist der Wettbewerb der Videokonferenz-Tools, die ihr Feature-Feuerwerk kaum mehr zu stoppen vermögen. Kreative Hintergründe, Breakout Rooms, Kamera-Apps et cetera. Und spätestens jetzt merken auch die juristischen Instanzen und Banken, dass Digitalisierung keine schlechte Sache wäre.

Dabei heisst es, der Mensch hat nicht gerne Veränderungen. Der Mensch wurde nun also gezwungen, sich zu verändern?
In meinem «ersten Leben» war ich Physiotherapeut. Wenn es darum geht, Geschicklichkeit zu fördern, Bewegungsabläufe zu erlernen und neurologische Erkrankungen zu therapieren, gestaltet man die Umgebung so, dass der Körper sich neu organisieren muss. Die umstrukturierte Umgebung also verändert das Verhalten. Und genau das ist geschehen. Unsere Routinen und Freiheiten wurden durchbrochen oder eingeschränkt und wir mussten und müssen uns in einem «neuen Normal» bewegen lernen.

Und wie müssen Firmen auf dieses «neue Normal» reagieren?
Firmen müssen neugierig sein, beobachten, ausprobieren und mutig sein. Firmen, die warten, bis der «Spuk» vorüber ist, werden es teuer bezahlen. Und auch die massive finanzielle Unterstützung der Wirtschaft ist auf lange Sicht schädlich. Härtefälle abzufedern, ist gut, aber grossflächig Geld auszugiessen, ist schädlich. Als Beispiel kann man die Flugreisebranche nennen. Deren Umsätze sind teilweise zu 90 Prozent oder mehr eingebrochen. In Kombination mit dem mutierenden Verhalten der Menschen wird sich diese Branche nicht eins, zwei, drei erholen. Hier ist Kreativität und Innovation gefragt.

«Es ergibt sich für uns eine Opportunität im Sinne einer limitierten Zeitspanne»

Der Black Friday lockt mit grossen Rabatten. Warum funktioniert die Geiz-ist-geil-Methode so gut?
Weil sie sich der Psychologie des Menschen bedient. Stellen wir uns vor, der Milchpreis im Laden wäre im Verlauf der letzten 30 Jahre auf fünf Franken gestiegen. Dann fühlten sich 1.65 Franken als Spottpreis an. Da die Milch aber immer denselben Preis hat, gewöhnen wir uns daran. Übertragen auf die Black-Friday-Rabatte ist der günstige Preis auf eine kurze Zeit limitiert. Es ergibt sich für uns eine Opportunität im Sinne einer limitierten Zeitspanne. Die Kombination von Abweichung zum gewohnten Preis und limitierter Zeitspanne triggert im Gehirn ein Gefühl, die Chance nicht zu nutzen und etwas zu verpassen. Menschen, die rationaler denken, sagen sich, ich bekomme für gleich viel Geld das 1,2-Fache.

Ergibt sich hier nicht einfach nur eine Verlagerung des Umsatzes – oder können Onlineshops tatsächlich Zusatzgeschäfte machen?
Es kommt definitiv zu Zusatzgeschäften. Die Angst, etwas zu verpassen, führt dazu, dass Konsumenten mehr kaufen, als sie brauchen – nicht zwingend mengenmässig, aber in der Anzahl der Produkte. Zum Beispiel werden millionenfach Gadgets wie der Schlaftracker «Oura Ring» bestellt. Diese Gadgets sind während zwei bis drei Wochen der Burner, verlieren aber bald ihre Attraktivität, weil sie am Finger störend sind, nicht zur Eitelkeit einer Person passen, der Akku defekt ist oder die Auswertung in der App nicht mehr interessant ist.

Wenn am Black Friday so hohe Rabatte drin liegen: Bezahlen wir folglich das ganze Jahr einfach zu viel?
Das kann ich nicht generell beurteilen. Meine These ist eher eine gegenteilige. Ich würde behaupten, dass wir grundsätzlich für die meisten Produkte zu wenig bezahlen, wenn wir die gesamten Kosten vom Rohstoffbedarf über die Produktion bis hin zu Transport und Verkauf nachhaltig abgelten möchten.

«Der Mensch überlistet sich selbst»

Die Konzernverantwortungsinitiative, über die am Sonntag abgestimmt wird, will Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen. Auf der anderen Seite steht die Rabattschlacht am Black Friday. Das passt irgendwie nicht zusammen …
Da haben Sie völlig recht. Man wird am Sonntag ein Ja oder Nein in die Urne legen können. Wir werden weder das Problem der Ausbeutung damit lösen noch die Verpflichtung zur nachhaltigen Wirtschaft erfolgreich regeln. Beides ist eine Folge unseres Konsumverhaltens und davon, wie es unter anderem über die Werbung kultiviert wird. Wenn Firmen von sich sagen «Lidl lohnt sich» und T-Shirts für ein paar wenige Franken verkaufen, bin ich überzeugt, dass wir vom wahren Problem wegschauen. Der Mensch überlistet sich selbst, schafft ein Problem und versucht es nun mit einer im Grunde genommen unkontrollierbaren Verpflichtung für Unternehmen zu lösen. Und dabei vergessen wir sogar, dass wir die betroffenen Länder auch noch in ihrem Rechtssystem entmündigen, indem Unternehmen in der Schweiz vor die Gerichte gebracht werden können. Eigentlich bräuchte es den gesunden Menschenverstand und ein Zurück-auf-Start, wenn wir die Probleme der Globalisierung tatsächlich in den Griff bekommen wollen.

Welche anderen Anreize als den Preis würden Sie als sinnvoller erachten?
Viele Firmen vergessen, dass Produkte immer auch mit Dienstleistungen verbunden sind. Damit kann man sich auch differenzieren. Online-Druckereien sind ein gutes Beispiel. Sie können heute in Deutschland Flyer zu Spottpreisen online bestellen. Die Ware wird geliefert, das Papier ist eine Katastrophe, man bestellt ein zweites Mal. Eine Schweizer Druckerei kann diesem Preiskampf lediglich mit dem Service gegenübertreten, in der Papierbemusterung unterstützen und, wenn es Probleme gibt, nach zweimaligem Telefonklingeln am Apparat sein. Ein anderes Beispiel ist, Exklusivität schaffen. Tesla ist mit einem Elektrofahrzeug im Premium-Preissegment auf den Markt getreten. Nachdem aus Fehlern der verhältnismässig wenigen teuren Wagen gelernt wurde, ist mit dem Tesla «Model 3» das meistverkaufte Auto der Schweiz auf dem Markt, und dieses ist lange nicht das günstigste.

Und warum ist das nachhaltiger?
Ich will damit nicht behaupten, Tesla sei nachhaltig, das wäre ein anderes Interviewthema. Wären wir bereit, den Wert und nicht den Preis zu bezahlen, wäre eine Welt mit nachhaltiger Wirtschaft möglich. Das würde aber bedeuten, dass wir uns einschränken und bewusster einkaufen müssten. Solange sich die meisten Firmen einfallslos über den Preis bekämpfen, werden wir nie über wahre Nachhaltigkeit diskutieren können.

Gibt es dennoch positive Beispiele?
Das Beispiel, das ich zu Beginn erwähnt habe, mit dem Gemüse aus dem Seeland, ist definitiv ein solches. Ich weiss, woher das Gemüse stammt, ich kenne sogar die Bäuerin, die es persönlich und mit Unterstützung von Freiwilligen jeweils freitags bei uns verkauft. Der Preis, den ich bezahle, schliesst meine Emotionen mit ein. Ich glaube, etwas Vernünftiges zu tun, treffe bekannte Gesichter und weiss, dass Obst und Gemüse aus der Schweizer Landwirtschaft stammen. Das alles ist mir eben mehr wert. Statt einem billigen Preis, zahle ich den Wert, der in Franken etwas höher ausfallen mag als beim Detaillisten. Andere Beispiele sind kleine lokale Kaffeeröstereien und Bistros, die bewusst auf Nachhaltigkeit setzen. Ich befürchte allerdings, dass ihr Modell schwer skalierbar ist, und so sind gute Beispiele eher Nischenmärkte.

Einen ganz anderen Weg wählt LKW-Planen-Rezyklierer Freitag. Am Black Friday bleibt der Online Store geschlossen, stattdessen soll getauscht werden (persoenlich.com berichtete). Ist dies eine nachhaltige Lösung?
Es ist Marketing. Freitag ist nicht bekannt für günstige Produkte, sondern für das Original der Recycling-Taschen. Und das haben sie bis heute exzellent gelöst. Rabatte gibt es aber selten. Sie haben es geschafft, im günstigen Moment ein Produkt mit einer Story auf den Markt zu bringen. Ihre Strategie ist Premium, nicht Luxus – und da ist für eine Schweizer Qualitätsmarke der Markt gross. Freitag kann ich nur applaudieren für die konsequente Umsetzung von Produkt, Preis, Storytelling und Lifestylebrand aus einem Guss.

«E-Commerce wird seine Dimension auch nach Covid beibehalten»

Wird Covid-19 den E-Commerce nachhaltig verändern – oder verpufft das wieder, wenn Corona überstanden ist?
E-Commerce wird seine Dimension auch nach Covid beibehalten. Dank Heimlieferdienst und Auswahlsendungen zum Ausprobieren wird unser Wohnzimmer zur Geschäftsfläche von Firmen. Man könnte fast sagen, Firmen lagern ihre Ladenfläche zu uns nach Hause aus und wir bezahlen gar dafür. Smart!

Laut einer aktuellen Umfrage möchte jeder zweite Schweizer den Black Friday abschaffen. Setzt hier ein Umdenken ein – oder ist das eine Zeiterscheinung?
Ich kann mir vorstellen, dass sich diese Äusserung gut anfühlt, viele dieser Leute werden sich aber auch einen Rabatt gönnen. Es ist ein bisschen wie die Konzernverantwortungsinitiative. Grosse Unternehmen sollen endlich für die Ausbeutung von Mensch und Natur geradestehen. Aber nur weil es Konsumenten gibt, die ihre Produkte kaufen, sind sie zu diesen Grosskonzernen geworden, die sie heute sind.

Wie hat Corona eigentlich ihr Leben verändert?
Auf der einen Seite geniesse ich das unkomplizierte Arbeiten von zu Hause aus, auf der anderen Seite vermisse ich den Austausch mit meinem Team im Büro vor Ort. Aber wohl am meisten beschäftigt mich der Umgang, den wir Menschen vor Corona miteinander gepflegt haben. Ich frage mich, ob wir uns die Hände je wieder schütteln werden und ob sich Umarmungen in der Öffentlichkeit komisch anfühlen werden. Corona stiehlt auch zu viel meiner wertvollen Zeit. Ich möchte lernen, damit zu leben, ohne es täglich zu den Topthemen zählen zu müssen.



Martin Künzi ist Geschäftspartner der Kommunikationsagentur Enigma mit Standorten in Bern und Genf. Mit seiner Erfahrung als ehemaliger CMO und einem MBA in Marketing entwickelt er Strategien und Markenauftritte für seine Kunden.



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