22.04.2019

Neuromarketing

«Man muss die emotionale Nummer eins sein»

Welchen Einfluss hat das Hirn bei Kaufentscheidungen? Einen sehr wichtigen, sagt Autor und Unternehmer Philipp Zutt. 90 Prozent aller Verkaufsentscheidungen seien emotional. Dies nach der Devise des berühmten Abba-Liedes: «The winner takes it all.»
Neuromarketing: «Man muss die emotionale Nummer eins sein»
Philipp Zutt beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Funktion des Hirns, der Wirkung von Emotionen und dem gezielten Einsatz der Sinne für das Marketing. (Bild: zVg.)
von Matthias Ackeret

Herr Zutt, 90 Prozent jeder Kaufentscheidung erfolgen emotional. Welchen Stellenwert besitzt dabei das Marketing?
Das ist richtig – 90 Prozent jeder Kaufentscheidung sind emotional. Oft wird kolportiert, dass 90 Prozent der Kaufentscheidungen emotional seien. Die übrigen 10 Prozent wären dann rationale Entscheidungen. Das ist ein textlich kleiner, inhaltlich aber riesiger Unterschied. Denn unser Hirn ist nicht fähig, rein rationale Entscheidungen zu fällen. Vielmehr ist der Löwenanteil von jedem Entscheid emotional. Dies gilt übrigens auch für Entscheide in B2B-Beziehungen. Gutes Marketing nutzt diese Erkenntnis aus der Neurologie und bespielt gezielt die Emotionen des Empfängers. Sagt das emotionale Hirn Ja zu einem potenziellen Anbieter, steht dem Kaufabschluss meist nicht mehr viel im Weg. Der Stellenwert von so verstandenem und praktiziertem Marketing kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, es ist der Motor für den Erfolg einer Unternehmung.

Was läuft im Hirn ab, wenn jemand einen Gegenstand erwirbt?
Früher ging man davon aus, dass das Hirn einen mehrstufigen Evaluationsprozess durchlaufen würde: Eine Vielzahl von Anbietern würde systematisch bis zu einem «relevant set» mit einer Handvoll infrage kommender Marken destilliert, daraus würde dann – wiederum rational – ausgewählt. Heute wissen wir von den Neurologen, dass unser Hirn nicht in Hierarchien und Stammbäumen denkt. Vielmehr gibt es für jeden Lebensbereich, für jede Branche eine Leuchtturmmarke, die das Hirn im Moment des Bedarfs als Erstes ausspuckt. So wie wir uns zum Beispiel meist nur an den Sieger einer Weltmeisterschaft erinnern und bereits der Zweitplatzierte bald aus der Erinnerung verschwindet. Wir nennen solche Leuchtturmmarken «die emotionale Nummer eins». Und das ist auch gleich der wichtigste Erfolgsschlüssel für jedes Unternehmen: bei möglichst vielen Kunden die emotionale Nummer eins zu sein. Denn diese wird gekauft.

Sie haben ein Unternehmen für Neuromarketing gegründet. Was bieten Sie Ihren Kunden konkret an?
Zutt & Partner unterstützt nationale und internationale Unternehmen und Institutionen dabei, sich als diese emotionale Nummer eins zu verankern. In einem ersten Schritt wird dazu der Markt analysiert. Hier kommt das im Austausch mit der Wissenschaft entwickelte System EmoCompass zum Einsatz – über codierte Farben und Formen werden die Empfindungen der Menschen erfasst. Nonverbal, das ist wichtig, weil der Einbezug der Sprache Aussagen über unsere Empfindungen immer verfälscht: Das Hirn filtert automatisch nach «Kann, darf, will ich das sagen? Was sagen die anderen? Was erwartet man von mir?» und so weiter. Diese Filter werden nonverbal umgangen.

Wie geht es dann weiter?
So wird einerseits die Ist-Situation einer Marke untersucht. Andererseits werden auch Wunschemotionen abgefragt – sie geben als «Goldstandard» die Zielrichtung vor. Basierend auf dieser Analyse, geht es in einem zweiten Schritt darum, die Massnahmen konsequent auf das festgelegte emotionale Profil auszurichten. Über alle Sinne und über alle Touchpoints.

«Marktforschung sollte der Ausgangspunkt jeder Strategie sein»

Ist Marktforschung für ein Unternehmen sinnvoll oder nicht?
Marktforschung sollte der Ausgangspunkt jeder Strategie sein. Auf der einen Seite gilt es, das Marktpotenzial zu analysieren, dazu gibt es eine Vielzahl guter herkömmlicher Verfahren. Wenn es darum geht, die Empfindungen und Wünsche der (potenziellen) Kunden in Erfahrung zu bringen, muss man einen nonverbalen Ansatz wählen. Fragebögen, Tiefeninterviews und so weiter fördern nie die ungefilterten Emotionen der Menschen zutage. Bildgebende Verfahren wie fMRT (funktionelle Magnetresonanztherapie) und EEG sind fürs Marketing meist zu teuer und geben heute noch keine Handlungsanweisungen. Deshalb erfassen wir zusammen mit unseren Kunden seit über fünfzehn Jahren die Empfindungen der Menschen mittels psychologisch codierter Farben und Formen. 

Welche Branche agiert Ihres Erachtens am emotionalsten?
Die klassischen Konsumgüter, die Gastronomie und der Retail haben den Wert der Emotionen im Marketing schon früh erkannt und für sich einzusetzen versucht. Viele von ihnen haben noch heute die Nase vorn. Andere Branchen holen gegenwärtig massiv auf. Zutt & Partner berät zum Beispiel intensiv in der Finanzbranche, und auch B2B-Unternehmen  der Medtech- und Biotech-Branche zählen zum Portfolio. Inzwischen interessieren sich auch erste Medienhäuser für die praktische Anwendung von professioneller Emotionsmessung und -lenkung.

Gerade im Detailhandel unterbieten sich die verschiedenen Anbieter mit den Preisen. Inwiefern beeinträchtigen Niedrigpreise die Kaufentscheidungen?
Je austauschbarer die Produkte, desto relevanter wird der Preis. Der Detailhandel kämpft heute stärker als manch andere Branche mit dieser Austauschbarkeit. Das Erdbeerjoghurt im Regal unterscheidet sich kaum von dem in den Regalen der Mitbewerber. Der Fokus der Detailhändler lag in der Vergangenheit vielerorts auf Prozessoptimierung und Logistik. Doch auch diese sind austauschbar. Den Anbietern fehlt trotz unterschiedlichster emotionalisierender Massnahmen am Regal oft eine klare emotionale Markenprofilierung, mit der sie sich von der Konkurrenz abheben können. Der Preis wird so verstärkt zum relevanten Kaufkriterium. Ganz krass zeigt sich das im Onlinegeschäft, da stehen Prozesse noch mehr im Vordergrund, und Emotionen werden bislang noch stärker vernachlässigt – abgesehen von ein paar löblichen Ausnahmen. Der Preis wird damit zum Schlüsselkriterium; das ist über kurz oder lang ruinös.

Können Banken oder Versicherungen vom Detailhandel lernen?
Ja. Sie können vom Retail-Geschäften beispielsweise lernen, wie man Produkte richtig inszeniert, nämlich möglichst über die Sinne. Das scheint mit intangiblen Services auf den ersten Blick schwierig bis unmöglich. Es gibt aber eine Vielzahl von Möglichkeiten. Wir bauen aktuell beispielsweise mit einer Bank ein physisches Erlebnis, das bei den Kunden handfeste Aha-Effekte im Hinblick auf das Thema Anlegen auslösen wird. Besseres, multi-sensuales Verständnis für die Produkte wird zu mehr Abschlüssen und gleichzeitig zu mehr Bindung führen.

«Digital ist ein- bis zweisinnig»

Hat die ganze Digitalisierung das Marketing vereinfacht oder erschwert?
Beides: Digital ist – zumindest heute – ein- bis zweisinnig. Das erschwert die Emotionalisierung. Dafür komme ich den Konsumenten, zum Beispiel über das Smartphone, so nahe wie nie zuvor. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass Digital noch viel zu wenig mit Analog wirklich verbunden wird, es wird nach wie vor in einzelnen Channels bis maximal Crossmedia gedacht. Dabei ist unser Hirn auf die Wahrnehmung einer einzigen Welt ausgerichtet. Es sollte nur noch Strategien geben, die Analog und Digital für den Konsumenten unmerklich verbinden.

Welcher Marke können Sie selbst nicht widerstehen?
Mir gefällt, wenn sich ein kongruentes, eigenständiges Markenerlebnis über alle Sinne und Kontaktpunkte durchzieht, wie zum Beispiel bei Nike oder Apple. Das funktioniert auch im Kleinen: So gibt es in unserer Nachbarschaft ein Restaurant, das sich Amici miei nennt, da ist der Name von der Einrichtung über die Bedienung bis hin zu den Gerichten und Ritualen durchgängig Programm. Der emotionale Fit ist zu 100 Prozent gegeben. Dem Restaurant ist es damit gelungen, bei mir zur so wichtigen emotionalen Nummer eins zu werden.



Philipp Zutt ist Dozent für Neuromarketing an verschiedenen Hochschulen, Autor zahlreicher Fachartikel und Initiant des GlobalEmotionsForum. Als geschäftsleitender Partner und Delegierter des Verwaltungsrats der Zutt & Partner berät er mit seinem Team nationale und internationale Kunden.



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