Herr Savastano, der Detailhandel steckt zurzeit in grossen Schwierigkeiten. Ganz direkt gefragt: Was bereitet Ihnen momentan am meisten Bauchweh?
Zweifelsohne die Geschwindigkeit. Die Bedürfnisse unserer Kunden – obwohl ich diesen Begriff nicht gerne verwende, weil es den «Bedarfskunden» nicht mehr gibt – haben sich stark verändert. Sie wollen neue Marken und Produkte kaufen.
Woran liegt das? An der Digitalisierung?
Unbestreitbar. Die Produktkenntnisse unserer Kunden sind heute sehr hoch. Kauft jemand in der Sportwelt Fussball- oder Joggingschuhe, so weiss er oftmals mehr oder zumindest gleich viel über das Produkt wie der Verkäufer. Aber dies betrifft nicht nur die Sportwelt, dies betrifft alle vierzehn Welten, die wir anbieten. Doch dies bereitet mir weniger Bauchweh als die ganze Preisharmonisierung, die in ganz Europa passiert. Für den Konsumenten ist dies zweifelsohne von Vorteil. Doch man zieht viel zu wenig in Betracht, dass wir – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im Retailgeschäft mittlerweile das gleiche Preisniveau haben wie in Deutschland, obwohl bei uns die Löhne, die Mieten und die Lebenshaltungskosten viel höher sind. Seit dem ominösen 15. Januar 2015 ist wirklich viel passiert für die Konsumenten.
Das war der Tag, an dem die Nationalbank die Euro-Mindestwert-Grenze aufhob.
Ja, für uns Detaillisten ist dies bis heute ein Schlüsseldatum und entfaltet immer noch eine Schockwirkung. Der Vergleich mit einer kalten Dusche ist sehr nett ausgedrückt.
«Wichtig ist, nicht in Depressionen zu verfallen»
Aber welches Fazit haben Sie aus dem Entscheid der Nationalbank gezogen?
Wichtig ist, nicht in Depressionen zu verfallen. Jelmoli feierte 2018 seinen 185. Geburtstag. Das ist doch gewaltig und ein guter Grund, uns als starke Marke zu sehen. Dabei mussten wir uns auch mit den Fragen auseinandersetzen: Wie glaubwürdig ist die Marke Jelmoli? Was kann man von ihr erwarten?
Und?
Sie müssen sich unser Haus einmal vorstellen: Jelmoli verfügt über 24‘000 Quadratmeter Verkaufsfläche, ist also grösser als das legendäre Warenhaus La Rinascente in Mailand. 90 Prozent unserer Kundschaft ist lokal, der Tourismusanteil beträgt etwa 8 Prozent. Bei La Rinascente ist es etwa die Hälfte. Was bedeutet, dass wir sehr stark mit unseren lokalen Kunden arbeiten. Ausserdem sind internationale Department-Stores auch sonntags geöffnet. Hier in Zürich sind jedoch pro Jahr nur drei Sonntagsverkäufe erlaubt. Insgesamt arbeiten bei Jelmoli tausend Personen, und wir bieten etwa tausend Marken an. Unser Ziel ist es, Menschen, die sehr beschäftigt sind, in unserem Haus eine wertvolle Auszeit anzubieten. Deswegen haben wir bei Jelmoli zwölf verschiedene Gastrokonzepte einquartiert. Wichtig ist, dass der Gast – unabhängig von seinem Vermögen, seinem Alter oder seiner sozialen Herkunft – nach einem Kauf unsere Wertschätzung spürt und ein gutes Gefühl hat.
Sagen dies nicht alle Detaillisten? Zudem hat jeder Kunde bereits alles erlebt.
Das stimmt. Deswegen müssen wir uns – um attraktiv zu bleiben – ständig neu erfinden. Eigentlich braucht niemand einen Käse-Humidor mit 250 verschiedenen Sorten. Trotzdem haben wir ihn eingeführt und bieten damit ein einzigartiges Erlebnis. Dies hebt uns von unseren Mitbewerbern ab und garantiert ein spezielles Kauferlebnis. Aber es ist klar, in der heutigen Zeit ist es sehr schwierig, neue Bedürfnisse zu schaffen. Ein wichtiger Faktor ist die Neugierde. Unsere Kunden wollen nicht nur einen Bleistift kaufen, vielmehr wollen sie etwas erleben.
Aber wie erkennen Sie die neuen Trends?
In diesem Bereich ist der Markt knallhart. Funktioniert etwas nicht, dann funktioniert es nicht.
«Als Retailer muss man sehr strikt mit der Marke umgehen»
Das merken Sie schnell?
(Lacht.) Nicht schnell, das merkt man sofort. Als Retailer muss man sehr strikt mit der Marke umgehen. Unsere Sales-Periode ist sehr kurz. Im Gegensatz zu früher gibt es das Volumengeschäft im Einzelhandel nicht mehr. Früher konnte man den Verkauf durch Preisaktionen beschleunigen. Doch dies funktioniert heute nicht mehr. Viele Läden machen Aktionen, die Ware bleibt trotzdem liegen. Für Jelmolis Gäste gilt ein anderes Kriterium: Gefällt ein Mantel, wird er gekauft – unabhängig vom Preis. Deswegen machen wir auch keinen Black Friday oder Cyber Monday. Dies alles ist für eine Marke nicht glaubwürdig, wenn das Business über den Preis angeheizt wird. Wir hingegen möchten unser Geschäft mit Innovationen oder Neugierde ankurbeln. Dies ist ein anderer und in unseren Augen nachhaltigerer Ansatz.
Ist der Kunde komplizierter geworden?
Gibt es «den» Kunden überhaupt noch? Das Zukunftsinstitut hat 26 verschiedene Kundentypen ausgemacht. In unserem CRM erkennen wir etwa 15 verschiedene Cluster. Nicht nur deren Flexibilität, auch deren Individualität hat zugenommen. Zudem gibt es ein neues Phänomen: die Alterslosigkeit. Mittlerweile spielt es überhaupt keine Rolle, ob eine Kunde zwanzig- oder achtzigjährig ist. Am Ende kauft er den Veston unabhängig von seinem Alter; Hauptsache, er passt und gefällt.
Woran erkennt man dies?
Am besten an der Werbung. Die Werbung der Fünfzigerjahre ist vollkommen anders als die heutige. Wer früher Waschmittelwerbung machte, kannte seine Zielgruppe. Dies ist heute längst nicht mehr der Fall, das Erkennen der Adressaten ist viel schwieriger geworden.
Das ausführliche Interview mit Franco Savastano finden Sie in der Juni-Ausgabe von «persönlich».
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24.07.2019 11:46 Uhr