Auf Ex-Präsident Donald Trump wurde geschossen. Wie betroffen hat Sie dieses Attentat gemacht?
Barbara Lüthi: Es geht nicht um meine persönliche Betroffenheit. Für mich war sofort klar, dass dieses Attentat eine Zäsur in diesem Wahlkampf bedeutet.
Am Sonntag wurde ausserdem bekannt: Präsident Joe Biden zieht seine Kandidatur zurück. Für ein «Club»-Spezial sind Sie an die Ost- und Westküste gereist. Werden Sie diese Ereignisse, welche sich erst nach Ihrer Rückkehr ereignet haben, überhaupt thematisieren können?
Lüthi: In unserer Serie geht es nicht um die Person Joe Biden, sondern um die Politik der Demokraten – zum Beispiel in Wirtschafts- oder Migrationsfragen. Das alles gilt auch nach seinem Rücktritt als Präsidentschaftskandidat. Das Gleiche gilt für das Attentat auf Donald Trump. In praktisch allen Gesprächen kommt die Polarisierung zwischen und innerhalb der politischen Lager zum Ausdruck. Politische Leitplanken und Parteiprogramme haben sich weder durch das Attentat noch durch Bidens Rücktritt verändert.
Dennoch: Mussten sie nochmals in den Schnitt?
Lüthi: Wir hatten zwei bis drei Stellen, die sich konkret auf die Wiederwahl von Joe Biden bezogen. Diese habe wir nachträglich angepasst.
Ihr Fazit nach Ihrer Reise: Die USA sind wenige Monate vor den Wahlen zerrissen wie nie seit dem Bürgerkrieg. Weshalb?
Peter Düggeli: Es geht hauptsächlich um die Suche nach der Identität der USA. Was ist das für ein Land und in welche Richtung entwickelt es sich in allen Fragen, die die Menschen umtreiben? Im Jahr 2042 werden die Weissen in den USA in der Minderheit sein, das weckt Ängste. All diese Tendenzen verstärken sich durch polarisierende Medien. Und Social Media trägt das Seine dazu bei. Das spaltet und zerreisst immer mehr. Wer einen will, wird kaum gehört …
Trotz der Spaltungen haben Sie auch einen Gemeinschaftssinn gefunden. Welchen?
Lüthi: In der Lokalpolitik und bei den lokalen Gemeinschaften. Ich habe in Charleston, West Virginia, mit Mitgliedern des Stadtrats gesprochen, Republikanern und Demokratinnen, die täglich zusammenarbeiten. Da ist die Parteizugehörigkeit zweitrangig, wenn es darum geht, die wichtigsten Probleme einer Stadt zu lösen. Diese Ebene der Politik muss funktionieren, sagte man mir. Die nationale Politik sei abgehoben und befasse sich mit abstrakten Diskussionen zu Themen wie «Kulturkampf».
Barbara Lüthi, als Hauptmoderatorin des «Club», wie unterscheidet sich diese Spezialserie von Ihren regulären Sendungen in Bezug auf Vorbereitung und Durchführung?
Lüthi: Alles war anders. Es ist logistisch viel anspruchsvoller, ein Panel oder ein langes Einzelgespräch am anderen Ende der Welt aufzugleisen als Gäste ins Studio Leutschenbach einzuladen. Alles brauchte viel mehr Zeit – und auch Überzeugungsarbeit. Die Protagonisten hatten viele Fragezeichen, als plötzlich ein Telefonat aus der Schweiz kam. Vor Ort dann waren die Menschen sehr zugänglich. Wir haben die Interviews jeweils nach Zürich geschickt, das «Club»-Team hat übersetzt und ausgewertet. Wir haben gleichzeitig für verschieden Formate produziert. Viermal 75 Minuten für den «Club», für einen 50-minütigen «DOK»-Film, für eine fünfteilige 3Sat-Serie und für Online und Social. Das war eine richtig grosse Kiste, die zu stemmen nur mit absolutem Teamwork möglich war.
«Wir haben während der Planungsphase in Zürich weiterhin jede Woche einen regulären ‹Club› produziert»
Welche Herausforderungen gab es bei der Planung einer so umfassenden Produktion?
Lüthi: Wir haben während der Planungsphase in Zürich weiterhin jede Woche einen regulären «Club» produziert. Dazu kam, dass die Zeit zum Drehen und Schneiden äusserst knapp bemessen war. Aber nur so konnten wir unser Budget so niedrig halten. Von der «Club»-Redaktion waren Tamara von Allmen und Fabrizio Bonolini mit auf der Reise, sie haben auch als VJs gedreht. Alles war an der Grenze des noch Leistbaren. Aber es hat allen Freude gemacht und ich bin dem ganzen Team unendlich dankbar.
Bereits am Sonntag nach dem Trump-Attentat wurde «America, let's talk» gezeigt. Unklar war für mich nur, welche Folge das war. Die erste?
Lüthi: Am vorletzten Sonntag haben wir einen Zusammenschnitt aus allen vier Folgen gezeigt, vor allem die politischen Gespräche. In den vier Folgen geht es vertieft um die Lebenswelten und die politischen Meinungen der Menschen in den Bundesstaaten.
Sie müssen auf Ihrer Reise wahnsinnig viel Material gesammelt haben …
Lüthi: Wir haben in zweieinhalb Wochen über 20 Städte bereist, zwölf Bundesstaaten und längere Interviews mit circa 130 Menschen geführt. Ja, es ist also einiges an Material zusammengekommen. In dieser kurzen Zeit war dies nur möglich dank einer vorausschauenden Planung.
Interviewt haben Sie Menschen aus verschiedenen Hintergründen und mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Wie sind Sie an diese Gespräche herangegangen, um eine ausgewogene Darstellung zu gewährleisten?
Lüthi: Wie immer: Offen und mit journalistischer Neugierde. So kommt man sowohl mit dem Autoarbeiter und Trump-Anhänger in Detroit als auch mit dem intellektuellen Demokraten aus New York ins Gespräch. Dieses Vorgehen prägt unsere ganze Serie.
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Barbara Lüthi unterwegs mit Urbanist Jeff Horner in Detroit.
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Barbara Lüthi im Drug Court in Charleston West Virginia im Gespräch mit Angeklagten.
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Unterwegs mit John George von den Detroit Blight Busters.
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Kenny Greco in seinem Recyclingunternehmen in Youngstown Ohio.
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Peter Düggeli in einem Pregnancy Crisis Center mit Pro Life Aktivistin in New Orleans, Louisiana.
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Peter Düggeli im Gespräch mit dem Bürgermeister, einer Buchverkäuferin, einem Pastor und einem lokalen Politiker aus der Stadt Columbus in Mississippi.
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Vor einer ehemaligen Sklavenfarm in Louisiana.
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Im Gespräch mit Menschenrechtsanwältin Tiffany Roberts.
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Andrew Young, Bürgerrechtler, ehemaliger Botschafter der USA bei den vereinigten Nationen und Bürgermeister von Atlanta erzählt Peter Düggeli von seinem gemeinsamen Kampf für die Bürgerrechte mit Martin Luther King.
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Barbara Lüthi bei einem Jugendrodeo in Sweetwater Texas.
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Lüthi mit geflüchteten in Arizona am Grenzzaun zu Mexiko.
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Im Gespräch mit einem Pfarrer in Midland Texas.
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Peter Düggeli mit einer Hafenarbeiterin im Hafen von Houston Texas.
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Barbara Lüthi mit Autorin und Wirtschaftsexpertin Sandra Navidi vor dem New York Stock Exchange.
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Barbara Lüthi und Peter Düggeli auf der Brooklyn Bridge in New York.
Welche Erkenntnisse haben Sie über die Motivation der Trump- und Biden-Wähler gewonnen, die in den Medien oft übersehen werden?
Düggeli: Es tönt immer ziemlich banal. Aber am Ende des Tages haben Amerikanerinnen und Amerikaner systembedingt die kleinstmögliche Auswahl. Es gibt zwei Kandidierende, einer – oder vielleicht jetzt eine – wird gewählt. Und in der Abwägung was einem am wichtigsten ist, kommt man zum Wahlentscheid. Wer zum Beispiel sehr religiös ist, nichts von gleichgeschlechtlicher Ehe und Abtreibung hält, Donald Trump aber überhaupt nicht mag, wird trotzdem Trump wählen.
Peter Düggeli, wie hat sich Ihre Perspektive auf die amerikanische Politik und Gesellschaft seit Ihrer Zeit als US-Korrespondent verändert?
Düggeli: Wenig. Der «Kampf» um die Ausrichtung und die Identität dieses Landes wird politisch noch erbitterter geführt als vor wenigen Jahren. Die Amerikanerinnen und Amerikaner bleiben für mich aber ein positives und freundliches Volk. Aber man muss Dinge mögen wie den Individualismus, die Selbstbestimmung und die unbedingte Freiheitsliebe. Und ja, Leistungsbereitschaft und Erfolg werden nach wie vor sehr grossgeschrieben. Dass es aber in diesem System auch Leute gibt, die auf der Strecke bleiben und in gewissen Bereichen Hilfe – auch vom Staat – benötigen, das geht manchmal in gewissen Staaten vergessen.
«Die Konzerne kriegen die Unmengen von Fake News auf ihren Plattformen nicht in den Griff»
Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die Social-Media-Konzerne im Silicon Valley für den Ausgang der Wahlen?
Düggeli: Die Konzerne kriegen die Unmengen von Fake News auf ihren Plattformen nicht in den Griff. Und obwohl man längst weiss, dass Unwahres, Desinformationen und Fehlinformation für nicht wenige Wählerinnen und Wähler Grundlage ihres Wahlentscheids sind, passiert politisch relativ wenig. Wohl zu wenig. Auch die Biden-Administration hat in dieser Frage oft weggeschaut. Die grossen Konzerne im Silicon Valley haben schlagkräftige Lobbyisten in Washington. Und die «weltbewegenden» Innovationen, die sie der Welt auch bescheren, verhindern auch eine schärfere Gangart der Politik, um ihre Macht einzuschränken.
Am 5. November finden in den USA die Präsidentschaftswahlen statt. Wer wird gewählt: Donald Trump, Kamala Harris oder jemand ganz anderes?
Lüthi: Es ist noch zu früh, diese Frage zu beantworten. Warten wir ab, wie sich alles entwickelt nach dem Rückzug von Joe Biden.
Zum Schluss nochmals Werbung in eigener Sache: Weshalb muss man sich die vier Folgen von «America, let's talk» anschauen?
Lüthi: Vieles habe ich schon erwähnt. Wir haben versucht, ein umfassenderes und auch differenziertes Bild des heutigen Amerika zu vermitteln. Viele Menschen haben genug von der Spaltung, die von den Parteien geschürt wird. Und «Small Town America» scheint zu funktionieren, die Leute arbeiten zusammen, politische Differenzen hin oder her. Das war mir vorher nicht bewusst. Deshalb sagen die Amerikaner zurecht: «We're better than that.»
«America, let's talk» wird ab Dienstag, 23. Juli 2024, jeweils um 22.25 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.
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