Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» hat einen Betrugsfall im eigenen Haus aufgedeckt. Der Redaktor Claas Relotius habe in «grossem Umfang seine eigenen Geschichten gefälscht und Protagonisten erfunden», heisst es in einem auf «Spiegel Online» am Mittwoch veröffentlichten Bericht.
Aufgedeckt worden sei der Fall nach internen Hinweisen und eigenen Recherchen. Relotius hat die Vorwürfe laut «Spiegel» eingeräumt. Er habe sein Büro am Sonntag ausgeräumt und seinen Vertrag am Montag gekündigt.
Ich bin so wütend, entsetzt, schockiert, fassungslos. Claas Relotius hat gefälscht, er hat uns alle betrogen: seine Leser, den SPIEGEL, vielleicht auch andere Medien. Danke an den Reporter Juan Moreno, der das alles aufgedeckt hat. @DerSPIEGEL entschuldigt sich bei allen Lesern. https://t.co/XWAZIDWPrS
— Mathieu von Rohr (@mathieuvonrohr) 19. Dezember 2018
Der Journalist schrieb erst als freier Mitarbeiter für den «Spiegel», seit anderthalb Jahren war er als Redaktor fest angestellt. Von ihm sind dem «Spiegel» zufolge seit 2011 knapp 60 Texte im Heft und bei «Spiegel Online» erschienen.
«Das ist die vielleicht schwerste publizistische Krise beim ‹Spiegel›, erklärte die neue Chefredaktion um Steffen Klusmann am Mittwoch in Hamburg. «Es sind alle erschüttert. Das trifft ins Mark», sagte Geschäftsführer Thomas Hass.
Reporterkollege wurde misstrauisch
Erste Verdachtsmomente hatte es laut «Spiegel» nach einem im November 2018 veröffentlichten Artikel gegeben. Der Text «Jaegers Grenze», den Relotius zusammen mit Reporterkollege Juan Moreno recherchierte, handelt von einer US-Bürgerwehr an der Grenze zwischen Mexiko und den USA.
Offenbar hatte sich die Pressebeauftragte der Bürgerwehr in Arizona bei Relotius gemeldet. Sie wunderte sich, dass er einen Artikel verfasste, ohne für ein Interview vorbeigekommen zu sein. Moreno sei dann misstrauisch geworden und habe Bedenken geäussert, schreibt der «Spiegel». Ihm sei es gelungen, Material gegen den Kollegen zu sammeln.
Nach anfänglichem Leugnen, so «Spiegel Online» weiter, habe Relotius zugegeben, dass er viele Passagen nicht nur in dem einem Text, sondern auch in anderen erfunden oder Fakten verzerrt habe. Auch sei er Protagonisten, die er in seinen Storys zitiert habe, nicht begegnet. Seinen eigenen Angaben zufolge sind mindestens 14 Geschichten betroffen und zumindest in Teilen gefälscht.
Die Leitung des «Spiegel» will eine Kommission aus internen und externen Experten einsetzen. Sie sollen den Hinweisen auf Fälschungen nachgehen. Die Ergebnisse sollen öffentlich dokumentiert werden, «um die Vorgänge aufzuklären und um Wiederholungsfälle zu vermeiden», wie es auf «Spiegel Online» heisst. «Ausschliessen lassen sie sich, auch bei bestem Willen, nicht.»
«Reportagen» und NZZaS machen Faktencheck
Vor seiner Zeit beim «Spiegel» hatte Relotius für mehrere andere Medien gearbeitet. So publizierte der heute 33-Jährige in den letzten zehn Jahren auch Texte in «Cicero», der «Financial Times Deutschland», «taz», «Welt», im «SZ-Magazin», auf «Zeit online», in «Zeit Wissen» und in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». In der Schweiz erschienen seine Beiträge unter anderem in der «NZZ am Sonntag», der «Weltwoche» und in «Reportagen».
In der Schweiz sind die Texte von Claas Relotius vor allem in der @Weltwoche (28 Texte von 2012-2016) und in der @NZZaS (6 Texte von 2012-2014) erschienen. Einzelne Stücke gab's im @BielerTagblatt, der @AargauerZeitung, der @Tageswoche und im @NZZFolio. https://t.co/Svro3Ie3jw
— Ronnie Grob (@ronniegrob) 19. Dezember 2018
Im Schweizer Magazin «Reportagen» erschienen zwischen 2013 und 2016 insgesamt fünf Reportagen von Relotius. «Wir werden diese Geschichten einem genauen Faktencheck unterziehen. Momentan gilt die Unschuldsvermutung», sagte Chefredaktor Daniel Puntas Bernet auf Anfrage von persoenlich.com.
Bei der «NZZ am Sonntag» seien zwischen 2012 und 2014 sechs Artikel von Relotius abgedruckt worden – in erster Linie im Ressort Gesellschaft. «Wir prüfen derzeit, ob und inwiefern sie Falschinformationen enthalten haben», so Seta Thakur, Leiterin der NZZ-Unternehmenskommunikation, auf Anfrage.
Auch bei der «Weltwoche» ist Relotius freier Journalist gewesen. «Ich weiss nicht, ob an den wenigen Artikeln, vor allem Interviews, die bei uns erschienen sind, etwas faul war», sagte Verleger und Chefredaktor Roger Köppel. «Es gab nie eine Beanstandung.»
«Spiegel Online» ist zudem Content-Partner von «Watson». Die Reportagen von Relotius seien auf watson.ch jedoch nicht erschienen, heisst es dort.
Diverse Preise gewonnen
Die Texte von Relotius wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter waren auch vier «Deutsche Reporterpreise» (2013, 2015, 2016, 2018). Die Organisatoren reagierten am Nachmittag in einer kurzen Mitteilung: «Wir sind entsetzt und wütend über die geradezu kriminelle Energie, mit der Claas Relotius auch uns getäuscht hat.» Die Jury berate nun zeitnah, wie in diesem Fall zu verfahren ist – ob Relotius seine vier «Reporterpreise» aberkannt würden.
Einen Preis hat der Journalist bereits los: Den Anfang machte die Ulrich-Wickert-Stiftung, die nur Stunden nach Bekanntwerden des Skandals erklärte, Relotius den «Peter Scholl-Latour Preis 2018» entziehen zu wollen. «Ich bin tief erschüttert über diesen Betrug», teilte der frühere «Tagesthemen»-Moderator Ulrich Wickert mit. «Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Gut eines Journalisten.»
2014 wurde Relotius in Zürich ausserdem mit dem «Medienpreis für Freischaffende» gewürdigt. Relotius gewann mit der Arbeit «Der Mörder als Pfleger», die in «Reportagen» erschien. «Man muss schlichtweg besser sein als andere und man muss sich auch irgendwie abheben, sei es durch das Schreiben oder vielleicht durch ausgefallene Ideen für gute Stoffe», sagte Relotius damals zu persoenlich.com. Die «ausgefallenen Ideen» wurden ihm nun zum Verhängnis.
Relotius erinnert an Kummer
Es ist nicht der erste Fall, in dem Journalisten auffliegen, nachdem sie gefälschte Artikel veröffentlicht hatten. Der Schweizer Journalist Tom Kummer prägte den sogenannten «Borderline-Journalismus» – ein Euphemismus für frei erfundene journalistische Inhalte.
Tom Kummer war harmlos, weil er diese Gier nach Prominews ad absurdum führte. Aber Claas Relotius' Arbeit war wichtig. Seine Themen waren wichtig. Dass wir erstmal einen Disclaimer über ein Interview mit der letzten Überlebenden der Weißen Rose setzen müssen, bricht mir das Herz.
— Ayla Mayer (@santapauli1980) 19. Dezember 2018
Im Jahr 2000 wurde bekannt, dass Kummer diverse Interviews mit Prominenten frei erfunden hatte. «Medien konstruieren Wirklichkeit. Ich hab damals bloss diese Medienlehrbuchweisheit als Sprengstoffgürtel um meine Brust geschnallt und gezündet! Boom! Die Aufregung war riesig», sagte Kummer zehn Jahre später in einem persoenlich.com-Interview.
Teilweise mit Material von Keystone-SDA und der Deutschen Presse-Agentur DPA.
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20.12.2018 19:46 Uhr
19.12.2018 18:33 Uhr