04.05.2020

SRG

«Der Weg aus der Krise wird kompliziert»

In einem Buch legen einflussreiche Schweizerinnen und Schweizer dar, wie diese Pandemie das Land prägen könnte. Eine vertiefte soziologische und philosophische Analyse stammt von SRG-Direktor Gilles Marchand. Er sinniert auch über das künftige Mediensystem.
SRG: «Der Weg aus der Krise wird kompliziert»
Gilles Marchand, Generaldirektor SRG SSR, portraitiert am 28. Februar 2019 in Bern. (Bild: Keystone-SDA/Gaetan Bally)

Herr Marchand, durch improvisierte Abläufe wie Homeoffice oder Konferenzgespräche wurde in vielen Unternehmen die Effizienz gesteigert. Wird man künftig an diesen Arbeitsformen festhalten? 
Wir sind sofort und ganz einfach in einen Krisenmanagement-Modus übergegangen. Mit einem Dreiecksmodell: an der Spitze die Geschäftsleitung der SRG, die sich dreimal wöchentlich via Skype austauschte, und zwei Ad-hoc-Gruppen. Die erste war primär Gesundheitsfragen gewidmet, die zweite widmete sich den Produktionsthemen. Mit diesem System ist es möglich, sehr schnell und effizient zu führen. Dies umso mehr, als auch die verschiedenen Geschäftseinheiten der SRG in allen Regionen ihre Führung angepasst haben, um flexibler und agiler zu sein. Alle anderen Treffen, alle beruflichen Beziehungen wurden aufrechterhalten - allerdings auf Distanz. Etwas komplizierter ist es mit meinen internationalen beruflichen Verpflichtungen. Aber auch das konnten wir ohne allzu viele Probleme lösen. Weil alle unsere Kollegen im Ausland in der gleichen Situation sind. Paradoxerweise macht dies die Dinge einfacher. Diese Krise hat gezeigt, dass grosse Organisationen erstaunlich flexibel sein können. Dies war bei der SRG der Fall und wir werden daraus sicherlich wertvolle Lehren für die Zukunft ziehen. Vor allem auf dem Gebiet der flexiblen Arbeitszeiten, in der Fernproduktion, der beruflichen Mobilität, bei interregionalen Treffen, die normalerweise viel unserer Zeit in Anspruch nehmen. Das werden wir analysieren und damit gestärkt aus diesem Abenteuer hervorgehen.

Welche negativen Aspekte beobachten Sie?
Es gibt einige Nebeneffekte, die wir nicht leugnen sollten. Zum Beispiel die Vermischung von Beruf und Privat. Diese Umstellung kann unter Umständen schmerzhaft sein. Wir öffnen eine Art Fenster in unser privates Umfeld. Wer Skype mit der Videofunktion verwendet, zeigt dem Gegenüber seine persönliche Umgebung. Und es ist natürlich verlockend, einander zu sehen, insbesondere in Zeiten physischer Verknappung. Es ist auch beruhigend, es macht die Beziehung ein wenig greifbarer. Die soziale Distanz kann selbst bei zwei Zentimetern Abstand zum Bildschirm eingehalten werden. Zugleich ist sie jedoch auch ein direkter, manchmal gar kollektiver Eingriff in die Intimität. Und hier gibt es die ganze Palette.

Welche?
Da gibt es diejenigen, die aufmerksam sind: Blumenarrangement im Hintergrund, ein paar wissenschaftliche Bücher, Werke moderner oder klassischer Kunst… Kurzum, da sind die Profis. Dann gibt es die anderen mit den mehr oder weniger geschmackvollen Ferien-Souvenirs in der Wohnung, mit freiem Blick im Hintergrund in eine unaufgeräumte «Kriegsküche» oder auf ein verwüstetes Schlafzimmer (lacht). Es gibt diejenigen, die mit der Mute-Funktion, also der Stummtaste des Mikrofons, nicht so vertraut sind und die das apokalyptische Konzert entnervter Kinder oder Ehepartner am Ende ihrer Kräfte mitsenden. Und dann gibt es noch diejenigen, die uns mitten in die kalte und vollkommen aufgeräumte Wüste ihrer schrecklichen Einsamkeit einladen. Kurzum: Es gibt alles. Alle sind auch Kollegen, mit denen das gesellschaftliche und berufliche Leben schliesslich weitergehen wird. Aber was machen wir dann mit diesen Bildern im Kopf? Können wir sie vergessen, jene intimen, nicht immer nur vorteilhaften Eindrücke? Nach dem Virus wird es emotionalen und psychosozialen Stress zu bewältigen geben. 

Wie beurteilen Sie die Situation als studierter Soziologe?
Das ist eine sehr weit gefasste Frage... Ich denke, diese Krise wirft eine Reihe von sehr interessanten und wichtigen Fragen für die Schweiz auf. Einige davon möchte ich kurz beleuchten: Zunächst muss auf Fach- und Medienebene eine klare Unterscheidung zwischen der strukturellen Krisensituation der Medien (und ihrem Finanzierungsmodell) sowie der Notfallsituation (im Zusammenhang mit einer Pandemie) gemacht werden. Die Tatsache, dass Letztere recht gut verwaltet wird, heisst keineswegs, dass man sich mit Ersterer nicht mehr befassen muss. Gutes Krisenmanagement bedeutet also nicht, dass wir uns nicht mehr mit den strukturellen Problemen befassen müssten. Es ist wichtig, zwischen diesen beiden unterschiedlichen Ebenen zu differenzieren, wenn wir über direkte oder indirekte Unterstützung für einen Sektor diskutieren, der seine Bedeutung unter Beweis gestellt hat. Die Situation der Medien in der Schweiz wird sehr fragil bleiben, trotzdem die Öffentlichkeit ihre Bedeutung, insbesondere auch die Bedeutung des Service public, (wieder) entdeckt haben wird. Es wird schwierig sein, mit diesem Paradox zu leben. Auf der audiovisuellen Seite darf man gespannt sein, ob die Rückkehr der Fernsehgemeinschaft («live», alle zusammen zur gleichen Zeit), die wir seit Beginn der Krise erleben, der Rückkehr der physischen Mobilität standhält. Wir werden weiterhin nach neuen Fernsehritualen suchen müssen. Wird die De-Linearisierung von Inhalten, die den Hintergrund der jüngsten Medienentwicklungen bildet, im selben Tempo weitergehen wie bis anhin? Die Information wird auch weiterhin eine Schlüsselrolle einnehmen. Und zwar in einem subtilen Gleichgewicht von Experten und Journalisten. Information allein wird allerdings nicht ausreichen, um den Medien und dem Service public eine dauerhafte Legitimität zu verleihen. Andere Daseinsberechtigungen müssen gepflegt werden. Eine davon wird die Beziehung zur kulturellen Vielfalt der Schweiz sein. Es sind Brücken auf dem konföderalen Archipel. Unter diesem Gesichtspunkt glaube ich, dass das Projekt für eine nationale Video-on-Demand-Plattform, die wir für Ende des Jahres vorbereiten, eine wichtige Rolle spielen könnte.

«Bei völliger körperlicher Unbeweglichkeit besteht eine sehr schnelle intellektuelle Mobilität»

Und aus auf der übergeordneten Ebene?
Aus der Sicht der Makroanalyse wird das gesamte Verhältnis zur Andersartigkeit infrage gestellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir von einem «globalen» Modell zu einem «inter-nationalen» Ansatz übergehen. Ich unterscheide das Wort bewusst zwischen «inter» und «national» mit einem Bindestrich. Die Dinge sind zu sehr miteinander verbunden, um sie entflechten zu können, wie mir scheint. Aber wir könnten eine Weiterentwicklung des Modells erleben: Das Globale, produziert nach einem Standard, der überall angewendet wird. Das Inter-Nationale ist eine Norm, die eher lokal interpretiert und vor allem eher lokal hergestellt wird. Auf jeden Fall werden die Themen der Autonomie und die Definition der Konzepte und deren Verbindungen noch intensiv diskutiert werden. Die Schnelligkeit und Stärke dieser Pandemie wird ihre Spuren in der Beziehung zu anderen hinterlassen, etwa in der Frage des Klimas, des Ernährungsmodells, des Gesundheitssystems, der Voraussicht und der Mobilität. Ich stelle auch fest, dass der Service public im weitesten Sinne (Gesundheitssystem, Sicherheit, Lebensmittelkontrolle, Vorausplanung der Grundressourcen) als wesentlich betrachtet wird. Bei einer solchen Pandemie wird überall auf der Welt die Vormachtstellung des Einzelnen infrage gestellt. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie diese Themen in den grossen Kulturkreisen, insbesondere im Norden und Süden, interpretiert und erlebt werden. Und auch in der Schweiz lässt sich diese Idee des Gemeinwohls und des Service public, des öffentlichen Dienstes zwischen Zürich und Genf, Lugano und Chur unterschiedlich verstehen und erleben. Es ist nützlich, das föderalistische Modell in Krisenzeiten zu analysieren. Der Bundesrat ist, wie wir selbst in der SRG, zu einem vertikaleren und schnelleren Modell übergegangen. Die Umstände verlangten es. Wie aber erlebt die direkte und föderale Demokratie der Schweiz dies tatsächlich? Ist der verfassungsrechtliche Rahmen perfekt geeignet, eine solche Situation zu meistern? Die Reaktion des Parlaments wird in dieser Hinsicht sehr interessant sein. Krise und Abschottung sind ein unglaublicher Impuls für die Digitalisierung der Gesellschaft. Im Zuge dessen nimmt die Bedrohung durch soziale Kontrolle gefährlich zu. Werden wir bereit sein, alles aufzugeben, was die individuellen Freiheiten und den Schutz der Privatsphäre betrifft, gegen das Gefühl der Sicherheit? Wird dies in verschiedenen Teilen des Landes auf die gleiche Weise erlebt und gelebt? Ich bin mir nicht sicher. Schliesslich wird der Weg aus der Krise kompliziert sein und die endgültige Abrechnung wird sicherlich sehr hoch ausfallen.

Mit welchen Szenarien rechnen Sie?
Wir können uns zwei Modelle vorstellen: Erstens: Die Wirtschaft erholt sich ziemlich schnell und es gibt keine zweite grosse Pandemiewelle (ohne Impfstoff) im nächsten Winter. Eine Art rationale Kontinuität scheint also möglich, vor allem in der Schweiz. Und es geht wieder mehr oder weniger so weiter wie zu Beginn des Jahres. In der Hoffnung, dass wir einige nützliche Lehren für die Zukunft ziehen können. Zweitens: Eine tiefe wirtschaftliche Krise setzt ein, die Gesundheitssituation ist nicht geklärt, eine zweite Welle droht, ein zweiter Lockdown wird notwendig. Die Versuchung zum Rückzug, begleitet von grossen sozialen Spannungen, scheint mir dann durchaus möglich zu sein. Und dann werden wir auch berücksichtigen müssen, was in unseren französischen, deutschen und italienischen Nachbarländern geschieht. Unsere Volkswirtschaften und kulturellen Bereiche sind zu sehr miteinander verflochten, als dass man sie ignorieren könnte.

«Die Werbung in der Schweiz schmilzt wie Schnee in der Sonne»

Ist die Phase der Rückbesinnung und Temporeduktion nicht auch eine grosse Chance für die Menschheit?
Es ist immer nützlich, nachzudenken, aber es braucht nicht unbedingt einen tödlichen Virus dazu. Interessant, vielversprechend ist vor allem die Situation des Bruchs. Die Tatsache, anders zu leben, führt de facto zu einer Verflachung bestimmter Gewohnheiten. Und das ist nützlich.

Aber sind Sie sicher, dass wir das Tempo wirklich reduziert haben?
Im Gegenteil, ich spüre einige blitzschnelle Beschleunigungen. Im beruflichen Kontext zum Beispiel ist unser Austausch kürzer und schneller. Wir entscheiden schneller. Wir haben TV- und Radioformate in wenigen Tagen konzipiert, während es normalerweise Wochen dauert. Daher bin ich der Meinung, dass die Verringerung der physischen Mobilität nicht mit der Verringerung der Geschwindigkeit verwechselt werden sollte. Bei völliger körperlicher Unbeweglichkeit besteht eine sehr schnelle intellektuelle Mobilität. Tatsächlich haben wir nicht alles verlangsamt, wir machen die Dinge anders. Und das, ja, das könnte eine Chance sein. Ich denke, es ist eine Gelegenheit, unsere Verbindungen, unsere internationalen Beziehungen, unsere physische Mobilität, unsere Produktionsketten und den Einsatz der Virtualisierung zu überdenken. Aber ohne naiv zu sein. Wir müssen auch den Schutz unserer Privatsphäre, unserer individuellen Freiheiten ständig hinterfragen.

Wie wird sich die Krise mittel- und langfristig auf die Schweizer Medienlandschaft auswirken? Wird der Hang zur Digitalisierung auch medial weiter verstärkt?
Ja, natürlich. In kleinen Märkten wie dem unseren sind die Produktions- und Vertriebskosten ein echtes Problem, weil wir sie nicht über grosse Mengen amortisieren können. Die Schweiz hat nur acht Millionen Einwohner. Dennoch ist der Preis für eine TV-Kamera oder eine Print-Presse ungefähr derselbe wie in Berlin oder Paris, deren Märkte zehnmal grösser sind. Deshalb ist der Beitrag der Werbung in kleinen Märkten so wichtig, um Inhalte zu finanzieren. Kopienverkäufe, Abonnements oder Gebühren allein reichen nicht aus, um das derzeitige Produktionsniveau sowohl quantitativ als auch qualitativ zu sichern. Die Werbung in der Schweiz schmilzt wie Schnee in der Sonne. Sie wird von internationalen digitalen Plattformen und von deutschen und französischen Werbefenstern eingesaugt, die zudem die Programmrechte für die Schweiz nicht bezahlen, obwohl diese Programme in unserem Land vermarktet werden. Der starke Rückgang der Werbung bedroht direkt die Fähigkeit, Schweizer Inhalte zu produzieren. Und wenn wir es nicht selbst tun, wer wird sich dann für unsere subtilen kulturellen, politischen, künstlerischen oder sportlichen Realitäten interessieren? Niemand. Weder die Deutschen, noch die Franzosen, noch die Italiener, geschweige denn die Amerikaner oder die Chinesen. Die Medienkrise ist somit eine kulturelle Herausforderung für die Schweiz. Die Medien versuchen also, ihre Kosten zu begrenzen. Deshalb digitalisieren sie ihre Produkte. Aber es gibt Grenzen. Und wenn Sie sich gegen mächtige deutsche, französische oder italienische Sender wehren wollen, wenn Sie eine solide Alternative zu globalen digitalen Plattformen bieten wollen, dann müssen Sie für eine qualitativ hochwertige Produktion sorgen. Nicht nur im Bereich der Information, sondern auch in den Bereichen Sport, Fiktion, Musik, Dokumentarfilm. Und das kostet Geld. Deshalb sehen immer mehr private Medien keine andere Rettung, als von der öffentlichen Hand unterstützt zu werden. Das Problem ist, dass auch die öffentlichen Mittel nicht unbegrenzt sind. Ich glaube, dass der öffentliche Wert, der Public Value der SRG anerkannt ist. Aber was wird passieren, wenn sich viele Medien nicht von der Krise erholen? Werden letztendlich alle Medien mit der Begründung des Service public öffentliche Unterstützung beanspruchen müssen? Dies wirft dann die interessante Frage nach der Definition des öffentlichen Auftrags auf (wer legt ihn fest, wer kontrolliert ihn, können wir einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag haben und gleichzeitig versuchen, Gewinne zu erwirtschaften, mit welcher Art von unternehmerischer Unabhängigkeit usw.). Wir haben mit «No Billag» gesehen, wie lebhaft diese Debatte sein kann ... Wenn all dies also letztendlich zu einer Verzettelung der Ressourcen führt, dann wird niemand in der Lage sein, etwas Ernsthaftes zu tun, Inhalte zu produzieren, die der globalen digitalen Lawine standhalten können. Es ist eine politische und berufliche Gleichung, die wirklich sehr, sehr komplex ist. 

Was wünschen Sie sich für die Zeit nach der Krise?
Ein bisschen durchatmen zu können. Sagen wir so zwei bis drei Jahre ohne eine weitere grosse Krise – das wäre fantastisch!

  

Der Text wurde aus dem Französischen übersetzt. Das vollständige Interview, das Thomas Renggli schriftlich mit Gilles Marchand geführt hat, ist im E-Book «Die Schweiz steht still» zu lesen. (pd/eh)


Reggli

Thomas Renggli, «Die Schweiz steht still: Alltagshelden und Prominente im Gespräch», eBook, 176 Seiten, Weltbild Buchverlag.


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