12.04.2002

Schweizer Presserat

"Diskretion ade" - Paradigmenwechsel befürchtet

Fall Borer wird auch ohne Beschwerde aufgenommen.

Die Affäre Ringier/Borer hat es erneut gezeigt: Die Schweizer Medien könnten kurz davor stehen, mit der Privatsphäre nicht mehr diskret, sondern rücksichtslos umzugehen. Der Presserat ist besorgt und hofft auf ein Nachdenken in den Redaktionen. "Paradigmenwechsel" nennt der Schweizer Presserat das, was ihm derzeit Sorgen macht.

Bei der Präsentation des Jahresberichts 2001 am Freitag in Zürich wiederholte Präsident Peter Studer die von seinem Vorgänger und Berner Medienprofessor Roger Blum bereits gestellte Frage, ob die Schweizer Medien nun vom französischen zum englischen Stil übergingen. Der französische Stil steht dafür, dass man viel über einen Prominenten weiss, darüber aber wenig schreibt - Studer erinnerte an die uneheliche Vaterschaft des einstigen Präsidenten François Mitterand. Der englische Stil steht dafür, dass man wenig weiss, aber umso mehr darüber schreibt - als Beispiel nannte Studer Leben und Tod von Prinzessin Diana.

Sinkende Hemmschwellen

Der Presserat sieht verschiedene Gründe für einen möglichen Paradigmenwechsel: verstärkter Wettbewerb, Trivialisierung der Politik, Hang zur Personalisierung und Zuspitzung von Thesen auf Kosten der Opfer. "Enthüllte" Vorgänge im Intimbereich würden zum Skandal hochstilisiert und moralisierend ausgelegt, sagte Studer. Auf Fairness - etwa das Befragen aller Betroffenen - werde verzichtet, ethische und rechtliche Schwellen würden gesenkt. Studer verdeutlichte dies teils am Fall Ringier/Borer.

Diesen Fall wolle der Presserat von sich aus aufgreifen, falls keine Beschwerde eintreffe, sagte Studer. Vermutlich er selber werde den Antrag stellen und dann in den Ausstand treten. Dies, weil er sich wegen des ausserordentlichen Interesses in den Medien gezwungenermassen schon mit dem Fall befassen musste. "Wir hoffen auf vertieftes Nachdenken in den Redaktionen", sagte Studer. Dazu zitierte er pikanterweise Ringier-Chefpublizist Frank A. Meyer, der vor zwei Jahren zur Clinton/Lewinsky-Affäre schrieb: "Könnte es sein, dass die Menschen ahnen, wie wichtig es wäre, die öffentliche Debatte wieder der öffentlichten Sache zu widmen?"

Nicht erst seit Borer

Erste Anzeichen für einen Paradigmenwechsel sah der Presserat schon längst vor dem Fall Ringier/Borer. Von den 54 Stellungnahmen, die der Presserat im letzten Jahr veröffentlichte, betrafen 20 den Persönlichkeitsschutz. In etlichen Fällen sei es dabei nicht "nur" um die Privatsphäre, sondern um die Intimsphäre gegangen - und damit um Bereiche wie Sexualität auch ausserhalb der Ehe, sexuelle Präferenzen, gesundheitliche und religiöse Grenzsituationen.


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