Herr Strehle, 30 Prozent Frauenanteil bis 2016 – so das Ziel vor eineinhalb Jahren. Nun treffen wir uns hier, um über die Halbzeitbilanz zu sprechen. Wie wichtig ist dieses Thema überhaupt: Sind Sie nicht einfach nur froh, dass Sie überhaupt noch Personal haben?
Wie kommen Sie darauf?
Mehrere, teilweise langjährige Redaktoren sind gegangen.
Vor einem Jahr, als wir die Konvergenz eingeführt hatten, kam es zu einigen Abgängen, doch es waren nicht übermässig viel. Natürlich haben wir einige gute Kolleginnen und Kollegen verloren, die wir gerne behalten hätten. Aber wir haben andere gute gefunden und sind nicht schlechter aufgestellt als vor einem Jahr. Wechsel bieten jeweils die Möglichkeit, neue Leute einzustellen – eben zum Beispiel auch Frauen.
Nun: Drei gingen zu Watson, zwei zur WoZ, der Auslandchef ist bei der SP, Newsdesk und Wirtschaft haben Leute verloren. Macht Ihnen das Sorgen?
Nein, ich bin überhaupt nicht beunruhigt. Durch die Konvergenz war vieles neu und wir hatten damals einige Probleme in den Abläufen, was dazu führte, dass die Redaktoren teilweise sehr viel arbeiten mussten. Daher verstehe ich, dass einige Kollegen dies nicht mitmachen wollten, was sie dann zur Kündigung veranlasste.
Viele Mitarbeiter leiden darunter, dass dermassen gespart wird. Das müsste Sie doch alarmieren?
Vor einem Jahr, als wir die Konvergenz eingeführt hatten, war das ein Problem. Heute aber hat sich die Situation verbessert – ich habe jetzt jedenfalls keine Klagen mehr gehört.
Wertschätzung fehle, die Mitarbeiter würden nicht ernst genommen, sagte zum Beispiel ein langjähriger Wirtschaftsredator.
Klar gab es einzelne Abgänge von unzufriedenen Mitarbeitern. Sie äussern sich auch extern negativ über ihren Job und das Unternehmen. Wenn jemand das so sieht, ist es besser, wenn er geht und eine neue Chance wahrnimmt. Wenn Sie nun aber aufgrund der Aussagen einzelner Abgänger Rückschlüsse auf die Stimmung bei uns ziehen, ergibt das ein falsches Bild. Entschuldigen Sie, aber da sind Sie auf dem Holzweg.
Sprechen wir über den Frauenanteil: Haben Sie die 30 Prozent erreicht?
Nein, wir sind noch nicht dort, wo wir sein wollten. Die Richtung stimmt, doch es dürfte etwas schneller gehen. Es ist schwierig, geeignete Frauen zu finden. Auch wenn wir die Stellen ausschreiben: Es gibt immer wieder Gründe, warum eine Position dann doch nicht mit einer Frau besetzt wird.
Welche Gründe sind das?
Ich kann keine generellen Aussagen machen. Meist gibt es nachvollziehbare Gründe, die bei einer Stellenbesetzung für den Mann sprechen. Ein Mann erfüllt zum Beispiel das Profil etwas genauer als die Bewerberin. Mein Eindruck ist, dass es im newsgetriebenen Tagesjournalismus, wo es oft hektisch und sehr stressig zu und her geht, schwieriger ist, Frauen mit Erfahrung zu finden, als im Magazin-Journalismus. Dazu kommen unregelmässige Arbeitszeiten, die sich oft schwer mit einem Familienleben mit Kindern vereinbaren lassen.
Was bedeutet die Stauffacher-Deklaration (30 Prozent Frauenanteil bis Mitte 2016) für die Männer im Team?
Mit den Zielen sind die meisten einverstanden. Dass wir einen höheren Frauenanteil wollen, ist für alle nachvollziehbar. Doch diese Frauenförderung hat zwei Seiten: Einzelne Kollegen verliessen den Tagi, weil sie sich bewusst wurden, dass sie in naher Zukunft nicht weiter aufsteigen können.
Diese Stauffacher-Deklaration diskriminiert die Männer?
Wenn ein Kollege zu mir kommt und fragt: "Wo bin ich in drei Jahren?", dann kann ich ihm nichts versprechen, denn in einzelnen Funktionen hier sind die Frauen nach wie vor deutlich untervertreten, in der Tagesleitung zum Beispiel. Gäbe es diese Stauffacher-Deklaration nicht, die ich unterschrieben habe und weiterhin unterstütze, wären wir zweifellos flexibler.
Bei der Tagesleitung gibt es besonders grossen Aufholbedarf (vgl. persoenlich.com).
Ja. Wir sind daran, doch es ist schwierig. Aktuell macht nur eine einzige Frau diesen Job zu 25 Prozent, daneben haben wir gegenwärtig keine Kollegin, die die notwendige Erfahrung und thematische Breite zur Tagesleitung hätte.
Es mangelt an den Fähigkeiten?
Es mangelt in erster Linie an der Erfahrung. Wir wissen das und müssen Frauen ganz gezielt über Programme aufbauen, so dass sie die Tagesleitungsfunktion übernehmen können. Unser Ziel ist es, in einem halben Jahr oder spätestens Anfang 2016 eine zusätzliche Kollegin in der Tagesleitung zu haben.
Frauen brauchen eigens Programme, die sie auf die Tagesleitung vorbereiten?
Nein, das sind Programme im Rahmen des Talent-Managements. Dahin schicken wir auch Männer, um sie auf neue Aufgaben vorzubereiten.
Wie stark fordern Sie von Ihren Ressortleitern, dass Sie tatsächlich mehr Frauen einstellen?
Ich kann meinen Ressortleitern nur einzelne Frauen vorschlagen und sie auf unser Ziel hinweisen – was ich gemacht habe. Wenn dann die Ressortleiter gute Gründe anführen, warum es nicht geht, kann ich nur diese Begründungen hinterfragen. Lassen sie sich nachvollziehen, werden wir auch weiterhin einen Mann einstellen.
Könnten Sie sich vorstellen, den Ressortleitern Frauenförderung als lohnrelevantes Leitungsziel festzuschreiben?
Das ist dort denkbar, wo ein Ressort keine oder nur ganz wenige Frauen hat.
Wie unterstützt Tamedia die Frauenförderung beim Tagi?
Es gibt ein Frauenförderungsprogramm, das Frauen mit Karriereambitionen auf den nächsten Schritt vorbereitet.
Das Auslandressort wird neu von Christof Münger und Sandro Benini geführt. Hier hätten Sie doch eine Frau installieren können.
Wir hatten mit Christoph Münger intern einen Kandidaten, der als stellvertretender Auslandchef in den vergangenen Jahren einen sehr guten Job gemacht hat. Ausserdem hatte mit Sandro Benini ein hervorragender Auslandkorrespondent und Newsnetz-Mitarbeiter der ersten Stunde den Wunsch, nach Zürich zurückzukehren. Die beiden werden die Ressortleitung sehr gut wahrnehmen - dass sie Männer sind, durfte ihnen nicht zum Karrierenachteil werden.
Gab es keine erfahrenen Ressortleiterinnen, die in Frage gekommen wären? Oder hätten Sie vielleicht eine Charge darunter suchen müssen, sodass der Schritt für die Bewerberin keine Seitwärtsbewegung, sondern ein Aufstieg bedeutet?
Ich werde niemand, der keine Führungserfahrung hat, einem erfolgreichen stellvertretenden Ressortleiter vor die Nase setzen.
In der Chefredaktion hat es weiterhin 0 Prozent Frauen.
Das ist eine Frage der Zeit - wir haben mit Judith Wittwer eine hervorragende Kollegin im Stab der Chefredaktion. Da es bis zu meinem Abgang keine Vakanz hat, wird darüber mein Nachfolger Arthur Rutishauser entscheiden.
Sie hätten das nach dem Abgang von Peter Wälty ändern können, ohne jemanden zurückstufen zu müssen. Warum gelang das nicht?
Es gilt dasselbe, wie bei der Besetzung einer Ressortleitung. Es gab damals mit Alain Zucker einen hervorragenden Kollegen, der alle Voraussetzungen für die Aufnahme in die Chefredaktion erfüllte und seither einen ausgezeichneten Job macht. Ich konnte und wollte ihn nicht aufgrund der Stauffacher-Deklaration diskriminieren.
Apropos Nachfolger: War bei der Wahl Ihrer eigenen Nachfolge auch eine Frau im Rennen?
Das müssen Sie Herrn Supino fragen.
Sie waren selber involviert und wissen das sicher. Haben Sie Frauen vorgeschlagen?
Ja, ich habe auch Frauen vorgeschlagen.
Verstehen Sie, dass Ihre Nachfolge so früh bekannt gegeben wurde?
Ja, denn das Modell "geordnete Nachfolge" hat Tamedia verschiedentlich erfolgreich praktiziert. Ich finde gut, dass kein Führungsvakuum entstehen wird und habe auch aktiv darauf hingewirkt, dass meine Nachfolge früh aufgebaut wird. Jetzt, wo Arthur Rutishauser als mein Nachfolger bestimmt ist, kann ich ihn überall dort einbeziehen, wo es um längerfristige Entscheide geht. Das ist gut und wichtig so. Ausserdem sagte unser Verleger, er sehe keine Gefahr, dass ich zur "lame duck" werde. Das nehme ich als Kompliment. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass man mich weniger ernst nehmen würde seither. Widersprochen hat man mir schon zuvor und das ist auch gut so. Arthur Rutishauser wird voraussichtlich keinen harten Wechsel durchziehen, sondern den Tagi auf dem eingeschlagenen Kurs weiterführen.
Ihr Verleger sagte auch, er sei froh, dass Sie – "im Unterschied zu Kapitän Schettino nicht vorzeitig von Bord gehen". Wie haben Sie diese Formulierung verstanden?
Das war ein Spass, den man nicht zu ernst nehmen sollte. Dass einige Kollegen daraus deuteten, auch der Tagi sei ein untergehendes Schiff – das meinte Pietro Supino sicher nicht, denn er ist keineswegs dieser Ansicht. Er wollte damit sagen: "Dieser Kapitän bleibt auf dem Schiff".
Wie stellen Sie sich Ihre künftige Rolle als Mentor und Publizist vor?
Was ich als Mentor genau machen werde, ist noch nicht bestimmt. Wenn es junge Kolleginnen und Kollegen gibt, die dankbar sind, wenn ich sie begleite, werde ich das gerne tun. Wichtiger wird aber meine Arbeit als Autor sein. Ich werde weiter schreiben – das ist meine Leidenschaft.
Interview: Edith Hollenstein, Bild: Keystone