08.01.2018

NZZ

«Für mich ist das Feuilleton ein Ort des grosszügigen Denkens»

Vor zwei Jahren hat René Scheu das Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung» übernommen. Seither gab es viel Kritik, einen Protestbrief von Gastautoren und Entlassungen. Im Interview nimmt der Feuilletonchef Stellung und spricht über die Rolle seines Ressorts.
NZZ: «Für mich ist das Feuilleton ein Ort des grosszügigen Denkens»
«Wer in einer intellektuellen Zeitung die Intellektuellen herausfordert, muss mit Reaktionen rechnen», sagt René Scheu. (Bild: Christoph Ruckstuhl)
von Matthias Ackeret

Herr Scheu, Sie sind vor zwei Jahren im NZZ-Feuilleton, der Ruhmeshalle des Journalismus, als dessen Leiter angekommen...
...ich möchte kurz einhaken. Wer genau vertritt die zugegebenermassen schmeichelhafte Meinung, das Feuilleton sei die Ruhmeshalle des Journalismus?

Sehen Sie es nicht so?
Ich gebe gerne zu: Als zwanzigjähriger NZZ-Leser konnte ich mir nicht vorstellen, einmal das NZZ-Feuilleton zu leiten. Andererseits war es mein Bubentraum, einmal für die NZZ zu arbeiten. Eingeschüchtert war ich dennoch nicht, als ich meinen neuen Job antrat. Ganz im Gegenteil. Ich nutze den Freiraum, den mir meine Aufgabe gewährt. Die Arbeit bereitet mir noch mehr Spass, als ich ursprünglich dachte. Wir sind ein starkes Team mit einem exquisiten Autorennetzwerk, wir können Themen setzen, Institutionen begleiten, Debatten lancieren – richtig was bewegen.

Jetzt gibt es auch Kritik und Protestegegen Ihre Arbeit. Ist dies nicht ein bisschen ein Kälteschock?
Ich höre, dass man intensiv über das Feuilleton spricht, bei Premieren im Theater, beim Abendessen mit Freunden, an Vernissagen und sogar in den Konkurrenzmedien bis hoch hinauf in den Norden. Das ist kein Kälteschock, das ist vielmehr Ergebnis harter Arbeit an Themen und Texten. Was könnte ich mir mehr wünschen?

Ihr Feuilleton ist politischer und weniger akademisch als dasjenige Ihrer Vorgänger. Zudem gibt es auch mehr Thesenjournalismus.
Unter meinen Vorvorgängern Werner Weber und Hanno Helbling war das Feuilleton zweifellos in erster Linie dem Schönen, Wahren und Guten zugewandt. Mein direkter Vorgänger Martin Meyer hat, auch in eigenen Essays, die feuilletonistische Reflexion sozusagen politisch aufgeladen. Das dünkt mich wichtig – Stellenwert und Bedeutung des Feuilletons haben sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Für mich ist das Feuilleton ein Ort des grosszügigen Denkens und der Fortschreibung des Kanons gleichermassen, wir betreiben Zeitdiagnostik und Traditionspflege. Einerseits mischen wir uns ein, andererseits machen wir einen Schritt zurück. Doch es kann auch einer nach vorne sein. Wir sind schnell und wach, wir sind aber auch ruhig.

Sie haben vor einem Jahr im Feuilleton Verständnis für die Wahl von Donald Trump geäussert.
Falsch! Die primäre Aufgabe eines Journalisten besteht darin, ein Phänomen zu verstehen – und ich denke, gerade das Phänomen Trump verdient einen besonderen Effort. So wie Sie die Frage stellen, bewegen wir uns bereits in dieser ganzen Freund-Feind-Rhetorik. Im Grunde ist das schon keine publizistische Perspektive mehr, sondern eine pädagogische...

Jetzt werden Sie gar philosophisch...
...was meiner Ausbildung entspricht. Ich erkläre mich. Viele Journalisten glauben an die performative Kraft des Sprechens und Schreibens: Wenn ich schlecht über etwas Gutes oder gut über etwas Schlechtes schreibe, dann leiste ich meinen persönlichen Beitrag zur Verschlechterung statt zur Verbesserung der Welt. Für das Gute oder Schlechte kann jeder einsetzen, was er mag: die Willkommenskultur, den Veganismus, Trump, Clinton, den Nationalstaat, 1968. Ich habe ein vollkommen anderes Berufsverständnis. Da vor einem Jahr die meisten Journalisten, Intellektuellen und Meinungsforscher nicht mit Trumps Wahlsieg gerechnet hatten, versuchte ich Trump als Symptom zu beschreiben. Ausschlaggebend war für mich dabei die Aussage des amerikanischen Starökonomen Paul Krugman, der nach Trumps Wahl meinte, dass er in einem Land lebe, das ihm vollkommen unbekannt sei. Gleichzeitig nahm er für sich in Anspruch, aufs Genaueste zu wissen, wie der Trump-Wähler tickt. Und ich fragte mich – könnte diese Widersprüchlichkeit nicht typisch für viele amerikanische Intellektuelle sein?

Daraufhin gab es böse Reaktionen.
Ja, klar, wer in einer intellektuellen Zeitung die Intellektuellen herausfordert, muss damit rechnen. Aber die meisten geharnischten Reaktionen kamen von Kollegen. Die Leserreaktionen waren fast durchgängig positiv. Wenn man nicht ohne Schaum vor dem Mund über Trump schreiben kann, ist dies ein Armutszeugnis für die Vertreter einer Berufsgattung, die sich einbilden, frei zu denken. Für mich sollte das Feuilleton jener Ort sein, in dem die wichtigen und richtigen Debatten geführt werden, und zwar mit offenem Visier.

Sie haben in den letzten Jahren das Feuilleton radikal umgebaut und auch Mitarbeiter entlassen. War dies notwendig?
Wenn die Führung eines Bereichs ändert, kommt es in jedem Unternehmen zu personellen Rochaden, das ist völlig normal. Zugleich hat sich der Beruf des Feuilletonisten in den letzten Jahren stark gewandelt. Auch heute kann ein Feuilletonist ein bunter Vogel sein. Aber darüber hinaus ist er ein geistiger Hochleistungssportler, der nicht nur gut und vergleichsweise öfters schreiben und klar denken, sondern auch die technischen Programme beherrschen muss. Wir müssen ein Team sein, das die alten mit den neuen Tugenden vereinen kann.

Die Kündigung des 58-jährigen Redaktors Uwe Justus Wenzel schlug unüblich hohe Wellen, auch über die Branche hinaus.
Sie werden von mir kein schlechtes Wort über einen früheren oder amtierenden Mitarbeiter hören. Viele gebildete Menschen haben einen Hang zu Verschwörungstheorien. Sie lassen sich nicht entkräften – sie passen den Kollegen so schön in den Kram.

Kein orchestrierter Rechtsrutsch?
Natürlich nicht. Wir sind bei der NZZ am Ende des Tages eine ziemlich heterogene Truppe. Die Entlassungen, die Sie ansprechen, hatten keine ideologischen oder persönlichen Gründe. Jede personelle Veränderung hat ihren je eigenen Hintergrund.

Nach der Entlassung Wenzels unterzeichneten 70 Akademiker, die sich über den Zustand der NZZ Sorgen machen, einen offenen Brief. Nehmen Sie dieses Schreiben ernst?
Selbstverständlich nehme ich dieses Schreiben sehr ernst, auch wenn die Aussensicht notgedrungen zahlreiche Lücken aufweisen muss. Eric Gujer und ich haben den Autoren in einem mehrseitigen Brief geantwortet und sind auf alle Punkte eingegangen.

Was haben Sie den Kritikern gesagt?
Wir haben in unserer Antwort die «Weltwoche» zitiert, die uns bezüglich unserer Haltung zur EU stark kritisierte und uns einen Linksrutsch vorwarf, während die «Wochenzeitung» fast gleichzeitig auf zwei Seiten einen Rechtsrutsch diagnostizierte. Wird man so gegensätzlich wahrgenommen, kann unser Kurs nicht ganz falsch sein. Gleichzeitig haben wir unsere Kritiker eingeladen, sich künftig wieder verstärkt als Gastautoren für unsere Zeitung zu betätigen und sich mit Anregungen und Vorschlägen bei uns zu melden.

Das ausführliche Interview mit René Scheu lesen Sie in der aktuellen «persönlich»-Ausgabe.



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